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Auch im Volksschulwesen.

Dabei ist es nicht etwa so, daß die Jahre 1888 bis 1913 eine besondere Epoche in der Geschichte des Volksschulwesens in Deutschland bilden, oder ein bestimmter Abschluß in der Gegenwart erreicht ist. Wir sind dieser Zeit auch zu nahe, um darüber schon jetzt ein Urteil abgeben zu können. Aber seit dem Regierungsantritt Kaiser Wilhelms II. ist die Förderung des Volksschulwesens in Preußen und auch in den anderen deutschen Staaten ganz deutlich unter den Gesichtspunkt der Förderung des Wohles der Hilfsbedürftigen getreten. Eingeleitet wird diese Entwicklung in Preußen durch die Volksschulerleichterungsgesetze von 1888 und 1889, welche durch Aufhebung des Schulgeldes die Familienväter von der persönlichen Steuer zum Zwecke der Erfüllung der Schulpflicht befreiten und die bedürftigen Gemeinden auf Kosten des Staates von Schulabgaben entlasteten. In Anknüpfung an das Pensionsgesetz für die Volksschullehrer von 1885 ist die Entwicklung fortgesetzt worden durch Maßregeln der Fürsorge für deren Hinterbliebene (1899), ähnlich wie in der Reichsversicherungsordnung, und für die Volksschullehrerschaft selbst, der durch zwei große Besoldungsgesetze (1897 und 1909) in gerechter Würdigung ihrer bisher unzulänglichen Bezüge eine Verbesserung ihrer Lage zuteil geworden ist, wie keinem anderen Beamtenstande in der ganzen Regierungszeit Wilhelms II. Und diese Fürsorge ist nicht auf den Umfang des preußischen Staates beschränkt geblieben. Das Volksschulwesen gehört zwar nicht zur Zuständigkeit des Reiches. Aber der Einfluß des preußischen Staates geht doch soweit, daß gewisse Maßregeln, die er trifft, namentlich von sozialer Art, ein nachziehendes Beispiel geben. So sind in allen deutschen Staaten nach dem Muster der preußischen Besoldungsgesetze die wesentlichsten Gehaltsaufbesserungen für die Volksschullehrer erfolgt. Wirksam wird der preußische Einfluß auf das Volksschulwesen im Reiche auch dadurch, daß hinsichtlich der Berechtigungen der Lehrpersonen, namentlich der weiblichen, ein Ausgleich innerhalb des deutschen Reiches nach dem Muster des Großstaates unvermeidlich ist, weil der Großstaat sonst die den kleineren Staaten unentbehrliche Gleichberechtigung versagt. Nur die größeren deutschen Staaten Bayern, Württemberg, Sachsen, Baden, auch Hessen, können sich diesem Vorgehen entziehen, und sie haben es auf dem inneren Gebiet auch getan, weil sie ein gefestigtes, ganz andersartiges Volksschulwesen besitzen. Der Entwicklung des Volksschulwesens in diesen Staaten wird daher besondere Beachtung zu schenken sein, zumal nicht verkannt werden kann, daß der preußische Staat keineswegs überall die führende Rolle übernommen hat, vielmehr einige kleinere deutsche Staaten für Reformideen erst die Bahn gebrochen haben. Bei der Verschiedenheit der Verhältnisse in den einzelnen, geschichtlich früher getrennten Landesteilen ist es für Preußen nicht so leicht, mit Gesetzen bahnbrechend voranzugehen, wie für kleinere Staaten in sich gleichartiger Beschaffenheit. Dazu kommt die finanzielle Tragweite jeder Maßregel, die für ganz Preußen getroffen werden soll. Um so anerkennenswerter ist es, daß in Preußen trotz aller entgegenstehender Schwierigkeiten in den letzten 25 Jahren eine Reihe großer Volksschulgesetze verabschiedet worden ist. Sie legen Zeugnis davon ab, wie unablässig das Bestreben vorgewaltet hat, gerade die Schulen der unteren Bevölkerungsschichten zu heben. Ja, dieses Bestreben ist erfolgt auf Kosten des Mittelstandes, der zurücktreten

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/665&oldid=- (Version vom 31.7.2018)