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der fremdsprachliche Unterricht das Element der Verstandestätigkeit gegenüber der ästhetischen und Gefühlsbildung mehr hervortreten lassen. Diese Zwecke zu fördern diente der Grundsatz, daß an einer anerkannten höheren Mädchenschule mindestens die Hälfte der Lehrer und Lehrerinnen akademisch gebildet sein müsse. Dabei war den Frauen ein erheblicher Anteil am Unterricht auch der Oberstufe zugedacht; nur unter ein Drittel der Gesamtzahl in einem Kollegium sollte die Zahl der männlichen – ebenso andrerseits der weiblichen – Lehrkräfte nicht herabgehen dürfen. Auch die Leitung konnte in Händen einer Frau liegen, die dann den Titel „Frau Direktorin“ zu führen hatte. Endlich war einer allmählichen Angleichung des gesamten Betriebes an den der höheren Knabenschulen dadurch der Weg bereitet, daß alle höheren Bildungsanstalten für die weibliche Jugend von jetzt an mit zum Aufsichtsbereiche der Provinzial-Schulkollegien gehörten.

Ausführende und ergänzende Bestimmungen.

Mit diesen Grundzügen der neuen Organisation war doch Großes erreicht. Zwar mochte hier und da die Erfüllung eines heiß gehegten Wunsches, in der Gestalt, in der er nun erfüllt war, dem Wünschenden nicht sogleich erkennbar sein; darüber wie über so manchen anderen Zweifel konnte nur der tatsächliche Verlauf die Entscheidung bringen. Die Möglichkeit einer frisch aufstrebenden, aus den Bedürfnissen der Wirklichkeit Kraft und Richtung gewinnenden Entwicklung war jetzt gegeben. An dieser mitzuarbeiten wurde auch die Unterrichtsverwaltung nicht müde. Dem ersten Erlaß folgten im selben Jahre noch (Dezember 1908) genaue Ausführungsbestimmungen, die namentlich den Übergang in die neuen Verhältnisse zu regeln suchten. In den folgenden Jahren wurden für die Reifeprüfung an Studienanstalten wie an Oberlyzeen, für die Lehramtsprüfung am Schluß des praktischen Jahres (1912 als „Seminarklasse“ bezeichnet) genaue Vorschriften veröffentlicht, dann auch eine allgemeine „Dienstanweisung“ erlassen. Überall hatten die entsprechenden Bestimmungen für die Knabenschulen als Muster gedient, aber auf Grund gemachter Erfahrungen schon in manchen Einzelheiten verbessert werden können.

Entstehung des „vierten Weges“.

Eine Schwierigkeit entstand mit Bezug auf die Ausbildung der Oberlehrerinnen, weil es hier eine besondere Prüfungsordnung (von 1894/1900) und besondere Kurse zur Vorbereitung schon gab. Sollten die wissenschaftlichen Lehrerinnen, die diesen Weg zurückgelegt oder eingeschlagen hatten, hinter denen zurückstehen, die künftig durch eine Studienanstalt zur Universität und von da zur Oberlehrerprüfung nach männlichem Ritus gelangen würden? Die „Ausführungsbestimmungen“ erklärten, daß beide Arten von Oberlehrerinnen gleiche Rechte haben sollten; auf die Dauer aber konnten zwei Arten von Vorbereitung und Prüfung nebeneinander nicht bestehen: die ältere, weniger vollständige mußte wegfallen. Und doch war sie nicht bloß ein Surrogat gewesen. Wer nach längerer praktischer Tätigkeit (fünf Jahre waren ja das Minimum) sich höheren Studien widmet, bringt eine ganz andere Kraft des Arbeitens mit, als sie Studenten in der

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1094. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/657&oldid=- (Version vom 31.7.2018)