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der Sinn auch der Lehrpläne von 1882. Zwar widmeten sie den realistischen Anstalten, dem Realgymnasium und der Oberrealschule wie sie fortan genannt wurden, erhöhte Fürsorge; aber die Blüte beider wurde dadurch hintangehalten, daß für den Eintritt in fast alle höheren Berufe nach wie vor die Beibringung des Reifezeugnisses von einem Gymnasium unerläßlich sein sollte. Diesen Anspruch hofften die Freunde der „klassischen Bildung“ dadurch aufrecht erhalten zu können, daß innerhalb des gymnasialen Lehrplanes die alten Sprachen weiter zugunsten der realistischen Fächer eingeschränkt waren. Aber das bedeutete einen Verlust an innerer Einheit und Kraft, während andrerseits den beiden Schwesteranstalten das äußere Wachstum gehemmt blieb. Mehr als die Bedenken der Regierung waren daran die Vorurteile der Gesellschaft schuld, die namentlich der Oberrealschule auch da – bei den preußischen Architekten und Ingenieuren – entgegenstanden, wo die Bildung, die sie gewährte, als Berufsvorbereitung besonders geeignet war. Von zwei Seiten wurde der Vorschlag gemacht, die Gegensätze in friedlicher Zusammenfassung zu versöhnen. Die einen empfahlen die „deutsche Einheitsschule“, die in Wahrheit nichts anderes war als das Gymnasium, nur mit fortgesetzter Einschränkung der alten Sprachen und entsprechender Verstärkung der modernen Elemente; die andern, von dem Abgeordneten v. Schenckendorff geführt, forderten, nach einem älteren Plane von Ostendorf (1873) und jetzt nach schwedisch-norwegischem Vorbild, eine „Einheitsschule mit Gabelung“, d. h. ein groß angelegtes System, in welchem die verschiedenen Formen, die bisher nebeneinander gestanden hatten, als Zweige alle aus demselben Stamm hervorwachsen sollten. Da nun der gemeinsame Unterbau, den Bedürfnissen der größeren Menge entsprechend, lateinlos gedacht war, so ergab sich für die alten Sprachen ein um mehrere Jahre späterer Anfang, als das Gymnasium ihn hatte, und damit ein so erheblicher weiterer Verlust an Wirksamkeit, daß sie als grundlegendes Element höherer Schulbildung hätten ausscheiden müssen.

Ein Grundirrtum.

Alle Parteien stimmten in einem Grundverlangen überein: jede begehrte für sich und ihr Ideal nicht nur freie Betätigung, sondern Herrschaft; eben daher die Erbitterung des Kampfes. Demgegenüber war doch schon damals der Gedanke laut geworden, verschiedene Geistesrichtungen und Bildungswege als gleichberechtigt anzuerkennen, so daß von dem feindlichen Gegensatze nur die Mannigfaltigkeit frischer, wetteifernder Kräfte zurückbliebe. Aber der Ruf zum Wettkampf und zum Frieden verhallte damals, wo nicht ungehört, doch unverstanden.

Dezember-Konferenz 1890.

Das zeigte sich auf der Konferenz, die im Dezember 1890 im Kultusministerium in Berlin zusammentrat. Kaiser Wilhelm eröffnete die Verhandlungen in eigner Person mit einer programmatischen Rede, in der er zu erkennen gab, was er bisher an den höheren Schulen vermißt habe und nun von ihnen erwarte: mehr Spielraum und Eifer für die Ausbildung körperlicher Kraft und Gewandtheit, bewußtere Pflege einer deutsch-nationalen Gesinnung, lebendigere Beziehung alles Lernens und Übens auf die Bedürfnisse und Aufgaben der Gegenwart. Auch dem Verlangen nach einer reinlicheren Scheidung

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1085. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/648&oldid=- (Version vom 31.7.2018)