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freudig begrüßten Schritt in der Richtung beginnender Dezentralisation. Wenn die Gründung von Frankfurt trotz des Opfersinnes seiner Bürgerschaft nicht überall und besonders nicht in allen akademischen Kreisen Beifall gefunden hat, so liegen die Gründe vornehmlich in der Rücksicht auf die in unmittelbarer Nähe befindlichen alten Universitätsstädte Gießen und Marburg, in der Besorgnis, daß die Berufung der Professoren nicht ganz allein nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten erfolgen und ihre Unabhängigkeit nicht im gleichen Maße wie bei den staatlichen Hochschulen gesichert sein könnte, ferner in dem Widerspruch, den das Weglassen jeder theologischen Fakultät gegen die historische Entwicklung und bewährte innere Struktur der altern Schwestern erhebt. Es ist nicht gelungen, diese Bedenken alle zu zerstreuen.

Wie man aber auch urteile, der Wunsch der Begründung von Frankfurt ist ein Zeichen geistiger Regsamkeit und eine Äußerung bürgerlicher Kraft, eine Folge der Wohlfahrt unseres Vaterlandes unter dem Schutze des hohenzollerischen Aars. Schwerlich weiß die Geschichte von einer anderen Zeit zu berichten, wo die Wissenschaft so in Blüte stand, wo liebevolle Fürsorge alle Zweige des geistigen Lebens von Universität bis Volksschule gleich liebevoll umfaßte und dank den Machtmitteln des Staates und dank dem Friedensreich umfassen konnte, wo Staat und Stadt alle Hände so eifrig sich regen sah, um das Bild der Pallas Athene zu bekränzen.

Ausblick.

Freilich haben, und das darf nicht unausgesprochen bleiben, weder die einzelnen Wissenschaften mit ihrer fortschreitenden Spezialisierung und Isolierung, noch hat die Technik trotz des unendlichen Fortschrittes es vermocht, dem so völlig umgestalteten Weltbild eine innere Einheit zu geben. Die Fülle ausgezeichneter Köpfe und der Blüte fast aller Wissenschaften fehlt der philosophische und literarische Name, in dem die deutsche Nation den Deponenten ihres Geistes erblickt, der ihre Seele in der Tiefe beleuchtet und sie freudig bewegt, der der Schar jener großen Geister sich würdig anreiht, die wie ein Chor von Propheten und Sehern 1813 die Wiege der deutschen Freiheit umstand. Das Leben mit seinem gewaltig antreibenden Schwungrad, mit seinem winkendem goldenen Lohn ruft andere Kräfte im Volke wach. Mit dem zunehmenden Reichtum steigt Wohlleben und Genußsucht empor, und deren Wagen folgen nicht die ernsten Musen; die Unrast des Lebens verhindert die Vertiefung. Wir haben an inneren Werten verloren. Es besteht die Gefahr, daß die Nation, mehr und mehr dem Praktischen zugewendet mit dem Idealismus den zeitgemäßeren Utilitarismus eintauscht und das innerste Wesen der Universitäten weniger versteht. Deutschland wurde ein Land der fruchtbaren Tat, weil es ein Land des Gedankens war. Es ist zu hoffen, daß die Nation sich auf sich selbst besinne und deutlich empfinde, daß äußere Wohlfahrt und praktisches, noch so hohes Können nur ein Kranz, ein Schmuck, aber nicht ihre Seele sind. Die sittlichen Kräfte stehen hoch über allem Können und Wissen; sie haben 1813 über den größten Meister der Kriegskunst und den Zwingherrn deutscher Freiheit den Sieg davongetragen. Der mächtige Schaffenswille des deutschen Volkes, dem eine starke Hand neue Wege in die Weite und in die Ferne ebnet, bezeugt aber seine Jugend und läßt hoffen, daß sich zu der Tat wieder die Tiefe philosophischen und idealen Denkens geselle.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1063. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/626&oldid=- (Version vom 9.3.2019)