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Die Universitätsstadt.

Nachteiliger Zug zur Großstadt.

Es ist ein Zeichen unserer Zeit, daß die Bevölkerung ihren Weg nach der Großstadt nimmt und die Arbeit wie die Freuden des Landes niedriger als die der Stadt einschätzt. Glanz und Schönheit der Hauptstädte dürfen nicht darüber täuschen, daß sie die Kraft des Landes an sich ziehen, um sie zu verbrauchen, und trotz ihrer Bedeutung am Mark des Landes zehren. In ihnen wächst nach den Worten eines geistreichen Nationalökonomen ein Geschlecht von Menschen heran, „das sein Leben ohne rechte Fühlung mit der lebendigen Natur verbringt, das die Sonne nicht mehr grüßt, das nicht mehr in den Sternenhimmel hineinträumt, das nicht mehr die Stimmen der Singvögel kennt und nicht die weiße Winternacht, wenn der Vollmond auf den Schneefeldern glitzert – ein künstliches Geschlecht.“ In der Großstadt wird der einzelne zur Massenerscheinung, die Umgebung wirkt auf die zarte Pflanze der jugendlichen Seele, die dem starken Eindruck der Umwelt erliegt und schließlich fremdes Licht reflektiert, statt eignes zu entwickeln. Die eigene Persönlichkeit vermag unter der Massenwirkung sich schwer zu entfalten, dazu gehört Freiheit und geistige Ruhe. Wenn die große Stadt dem, der ihr wieder entfliehen kann, unendliche Schätze der Anregung bietet, so nimmt sie leicht dem ständigen Bewohner, namentlich der Jugend die der Innenwelt. Nach der Überzeugung ernster und durch äußerlichen Glanz nicht beeinflußter Männer, wie des Freiherrn von Pechmann, gehört es zu den wichtigsten Aufgaben der Staatsweisheit, dem Zug in die ganz großen Städte, je wuchtiger er sich geltend macht, nicht widerstandslos zu folgen, sondern, wo es nur angeht, durch zielbewußte Dezentralisation nach Kräften entgegenzuwirken.

Dieser Zug in die Großstadt prägt sich zum Teil auch im akademischen Leben aus. Die Universitäten innerhalb der größten Städte zeigen, wenn nicht geographische Gründe entgegenwirken, die größte Anziehungskraft. In Preußen wie im Reich steht Berlin, danach München und Leipzig obenan. Die beabsichtigte Gründung der Universität Frankfurt hat Gelegenheit gegeben, sich zu vergegenwärtigen, ob Großstadt oder Kleinstadt den Vorzug als Sitz der Universität verdient. Niemand wird verkennen, mit welchem Eifer auch an den Universitäten der großen Städte gearbeitet wird, daß eine Fülle von Anregungen in sozialer, merkantiler Hinsicht, auf allen Gebieten des Lebens in die akademische Jugend überströmt, auf die einzelne Schäden der Großstadt weniger wirken, weil sie freier, unabhängiger und auch wanderlustiger ist; aber was besagt das alles gegenüber der poesie- und reizumsponnenen kleinen Universitätsstadt, die mit ihrem Zauber bis ins Alter fortleuchtet und den schönsten Begriff des Civis academicus geschaffen hat. Welche Fülle inneren, gesunden Fühlens und Denkens reift hier, an dem kleineren Ort, in den jungen Geistern heran, fernab von der Menge sich jagender und bisweilen verführerischer Eindrücke der Großstadt. Die Nähe von Wald und Flur ermöglicht die leichte Erreichbarkeit der Spiel- und Turnplätze; die nahe Berührung zwischen Dozenten und Studenten wirkt oft tiefer und nachhaltiger als Hörsaal und

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1061. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/624&oldid=- (Version vom 9.3.2019)