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bei den einheimischen katholischen Gegnern der interkonfessionellen Gewerkschaften. Von der Voraussetzung ausgehend, daß protestantische Arbeiter sozialistischen Einflüssen zugänglicher seien, als katholische, die sich leichter vom Klerus dirigieren lassen, möchte man verhüten, daß letztere von ersteren mit sozialdemokratischen Ideen angesteckt werden. Die Befürchtung, daß Organisationen, die sich christlich nennen, tatsächlich bisweilen wenig von sozialistischen verschieden, ja geradezu Entwicklungsstufen zu solchen sind, ist an sich keineswegs von vornhinein als grundlos abzuweisen. Vestigia terrent. Vertrat ja der in Rom gebildete Lütticher Professor Abbé Pottier rückhaltslos die Lehren der christlichen Sozialdemokratie und verstieg sich sogar zu der Behauptung: es sei heutzutage eine zweifellose Häresie, zu leugnen, daß die Zukunft der katholischen Kirche in ihrem Bunde mit der Sozialdemokratie beruhe! Und dem Grafen de Mun erklärte der sozialistische Abgeordnete Guesde in der französischen Kammer: „Die Agitation der katholischen Vereine fürchten wir nicht; Sie (die christlichen Demokraten) besorgen den ersten Unterricht im Sozialismus. Sie sind tatsächlich gegen Ihren Willen Rekrutierungsagenten für diesen. Sie sind die enfants perdus des Sozialismus, indem Sie einen Teil der arbeitenden Klasse aufwecken, an den wir uns nicht wenden können. Alles was man gegen uns tut, selbst in der Form einer Gegengründung gegen den Sozialismus, unter dem Vorwande eines christlichen Sozialismus, schlägt zum Vorteil der großen sozialistischen Idee aus.“ Das Organ der französischen Royalisten war derselben Meinung, wenn es schrieb: „Der christliche Sozialismus hat zugunsten des revolutionären Sozialismus in Frankreich mehr getan, als alle Anstrengungen der Kollektivisten zusammen vermochten.“ Die Civiltà cattolica, die römische Jesuitenzeitschrift, wenn sie am 16. Mai 1896 schrieb: sie habe längst als notwendig und unausbleiblich erkannt, daß der Radikalismus und der Katholizismus auf einem Punkte zusammentreffen und sich alliieren müßten; diese beiden Systeme seien die einzigen logischen Sonnen. Solche Äußerungen lassen die erwähnten Befürchtungen verstehen; sie zeigen aber zugleich, daß es keineswegs interkonfessioneller Allianzen bedarf, um christliche Organisationen zum Sozialismus hinüberzuführen, sondern daß rein „katholische“ schon vorher auf dem besten Wege dazu waren. Wer daran zweifelte, den dürfte man nur an gewisse übelberufene Wahlbündnisse zwischen Katholiken und Sozialdemokraten und an die bitteren Erfahrungen erinnern, welche die beiden verstorbenen Erzbischöfe von München und von Bamberg machen mußten, weil sie vor jenen Bündnissen zu warnen gewagt hatten. Wenn deutsche Kirchenfürsten den Papst veranlaßten, Mahnungen und Warnungen in Sachen der Gewerkschaften ergehen zu lassen, so hatten sie zweifellos dazu ihre Gründe. Daß aber die Scheidung nach Konfessionen die Panazee gegen die gefürchteten Schäden sei, werden sie bei ihrem anerkannten tiefen Verständnisse für die Lage kaum glauben, und ist nach den gegebenen Andeutungen jedenfalls nicht über allen Zweifel erhaben. Es dürften auch hier wie in so vielen anderen Fragen die realen Verhältnisse sich stärker erweisen, als die schönsten Theorien. Die harte Notwendigkeit des Lebens wird zu Organisationen behufs Verteidigung von Standesinteressen führen. In großen Betrieben, die Hunderte und Tausende von Arbeitern brauchen, wird man nicht die Frage nach dem religiösen Glauben stellen können. Solange aber katholische

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1039. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/602&oldid=- (Version vom 14.2.2021)