Seite:Deutschland unter Kaiser Wilhelm II Band 2.pdf/601

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

und zu fördern, wird er darauf hinarbeiten, alles Trennende, auch die konfessionellen Schranken – wenngleich nicht im Glauben, so doch im Verkehr – nach Möglichkeit zu beseitigen. Aber er findet hierbei wiederum die schlimmsten Gegner in jenen Untertanen, denen alles Katholische ultramontan und die Ultramontanen nicht gleichberechtigt sind. So arbeiten pseudoliberale Unduldsamkeit und kirchliche Ängstlichkeit auf katholischer Seite sich in die Hände, um die im Glauben Getrennten auch im Leben möglichst auseinanderzuhalten. Beide wollen mit dem Hinweis auf das Tun ihres Widerparts die Notwendigkeit des eigenen begründen. Mehr als einmal war es so das Verhängnis des deutschen Katholizismus, daß er an wichtigen Wendepunkten, wo er im Begriffe stand, kulturelle Bedeutung und nationale Geltung zu gewinnen, durch dieses Zusammenwirken einheimischer Verständnislosigkeit und romanischer Ängstlichkeit sich gezwungen sah, darauf zu verzichten und sich auf sich selbst zurückzuziehen. Und doch könnte man auf akatholischer Seite allmählich so weit sein, die Kulturkampfstimmung als Anachronismus zu erkennen, ebenso wie man andererseits konstatieren muß, daß viele Italiener, die mit dem kirchlichen Primate keineswegs identisch sind, ihre einheimischen, dem Fremden oft genug magis admiranda quam imitanda scheinenden Zustände ohne weiteres für musterhaft und für katholisch schlechtweg halten, obwohl sie tatsächlich höchst partikularistisch sind und andere Nationen sich mit Recht gegen sie wehren. So wie die Dinge liegen, wird die Richtung im deutschen Katholizismus, welche, unbelehrt durch die üblen im 18. Jahrhundert gemachten Erfahrungen, in der möglichst vollständigen Abschließung von den Protestanten das einzige und sicherste Heil sieht, unbekümmert darum, daß so mit Notwendigkeit zwei sich nicht mehr verstehende Völker innerhalb des einen Reiches sich bilden müßten, immer von zwei Seiten Aufmunterung und Unterstützung finden. Das Schädliche einer solchen Absperrung auch für die Katholiken liegt darin, daß sie der wertvollen kulturellen Förderungen entbehren müßten, die ihnen aus dem Verkehr mit ihren andersgläubigen Mitbürgern erwachsen können. Auch der Vorwurf, der katholischen Kirche gelte Volksverdummung als Volkserziehung, schöpft daraus immer neue Nahrung. Unter anderen hat Görres das namentlich von der jesuitischen Erziehung und Seelsorge vor und in der Aufklärungszeit geübte System der Abschließung als durchaus verderblich gerügt. Die günstigen Wirkungen dagegen, die man von diesem sehr einfach scheinenden Mittel erwartete, sind immer ausgeblieben, weil sich das System einfach nicht durchführen läßt, wie ebenfalls die negativen Erfolge des 18. Jahrhunderts beweisen. So wäre auch unter diesem Gesichtspunkte zu wünschen, daß die Versöhnungstendenzen unseres Kaisers rechts und links allgemeines Verständnis und umfassende Betätigung fänden.

Christliche Gewerkschaften.

In dem dermalen brennenden Gewerkschaftsstreit wollte man einen Beweis dafür finden, daß die Weigerung bzw. das Verbot des Zusammengehens der Konfessionen zu gemeinsamer Vertretung der Standesinteressen von katholischer Seite ausgehe. Aber das ist, wenn wir recht berichtet sind, nichts weiter als Schein. Unter der Hülle konfessioneller Befürchtungen verbergen sich hier andere, nur selten klar ausgesprochene Motive, wenigstens

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1038. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/601&oldid=- (Version vom 14.2.2021)