Seite:Deutschland unter Kaiser Wilhelm II Band 2.pdf/600

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Vereinswesen anzufangen ist gefährlich, weil bei der unendlichen Zahl solcher Vereinigungen es schwer würde, wieder aufzuhören. So mag die Bemerkung genügen, daß es kaum eine Seite christlicher Caritas gibt, für die nicht Vereine beständen, kaum einen Beruf, einen Stand, dessen Angehörige sich nicht in einem Verbande zusammenschlössen. Da gibt es Organisationen für innere wie für äußere Mission, Vereinigungen für Armen- und Krankenfürsorge, für Jugendpflege aller Art, für Spiel und Sport; Verbände für Arbeiter und Arbeiterinnen, für Schiffer und Küster, für Gesellen und Dienstboten, für Lehrer und Lehrerinnen, für männliche und weibliche Kaufleute, für Priester und Studenten und Studentinnen, für Auswanderer und im Ausland Lebende, für Wissenschaft und Kunst, für gute Bücher und gute Presse, gegen Unsittlichkeit und Alkoholismus usw. Es ist nicht zu leugnen, daß die Konfessionalisierung hier reichlich weit gediehen ist. Mag bei den meisten Vereinen eine Scheidung nach Konfessionen ohne weiteres einleuchten, so ist sie bei manchen jedenfalls auf den ersten Blick, bei einigen wenigen überhaupt befremdlich, z. B. bei Spiel- und Sportvereinen. Allein dies sind großenteils noch Nachwirkungen vom Kulturkampf, von der Zeit, da die preußische (wie manche andere) Regierung und die religiöse Verständnislosigkeit des Liberalismus die Katholiken abstießen und sie zu exklusiven politischen wie geselligen Organisationen drängten. Ein größerer Gefallen hätte dem „Ultramontanismus“ gar nicht geschehen können, als er ihm durch jene Unduldsamkeit erwiesen wurde. Wenn man daran erinnert, daß die konfessionellen Vereinigungen unter der Regierung des dermaligen Kaisers, dem wir eine langsame Entspannung der religiösen Gegensätze nachrühmen, eher zu- als abgenommen haben, so ist zu bedenken, daß geistige Faktoren nicht mit der Plötzlichkeit chemischer Reagenzien wirken, daß vielmehr die Wirkungen oftmals erst viel später sich einstellen, sogar wenn die Ursachen längst verschwunden sind. Daß übrigens das Beispiel des Kaisers allgemeine Nachahmung gefunden habe und die konfessionelle Engherzigkeit gegen alles Katholische aus allen akatholischen Kreisen verschwunden sei, könnte doch nur behaupten, wer selbst in jener Engherzigkeit befangen wäre. Ein Blick in gewisse Zeitungen und Zeitschriften, die Anwesenheit bei gewissen Versammlungen kann jeden, der Augen und Ohren auftut, vom Gegenteil überzeugen. Man möchte eher an eine Steigerung dieser Exklusivität glauben, die als Reaktion gegen des Kaisers Weitherzigkeit psychologisch begreiflich wäre. Daraus allein schon würde sich wiederum die Zunahme der spezifisch katholischen Veranstaltungen erklären. Da ferner das Ausland die konfessionellen Verhältnisse im Deutschen Reiche und die Wirkungen der Konfessionsmischung niemals richtig beurteilen wird, so werden jene Katholiken, die eine konfessionelle Absonderung für unbedingt notwendig halten, weil sie in dem unbeschränkten Verkehr mit Andersgläubigen eine Bedrohung der Reinheit des Glaubens sehen, immer in Rom mehr Verständnis finden, als die einem unbefangenen Zusammengehen das Wort reden. Der Papst als oberster Wächter über Glauben und Sitten muß alles, wodurch diese nach seiner Überzeugung oder nach den Berichten Einheimischer geschädigt werden könnten, zu beseitigen suchen. Er hat ein lebhaftes Interesse daran, jeden Einfluß einer fremden Religion von seinen Gläubigen fernzuhalten. Dagegen ist das Ziel, das der Staat anstreben muß, direkt entgegengesetzt: um die Einheit der Nation zu erhalten

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1037. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/600&oldid=- (Version vom 14.2.2021)