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daß er um fünf Menschenalter hinter der Geschichte zurückgeblieben ist. Wer so redet, hat am wenigsten das Recht, über ultramontane Exklusivität sich zu ereifern. Solch törichten Träumereien nachhängen heißt die durch unseres Kaisers hochsinnige Bestrebungen glücklich aus dem Banne konfessioneller Engherzigkeit auf die Höhe nationalen Empfindens gehobene deutsche Kirchenpolitik wieder auf das alte beklagenswerte Niveau der siebziger, ja der dreißiger Jahre herabdrücken. Dafür wird freilich Wilhelm II. niemals zu haben sein, und das ist sein nie genug zu schätzendes Verdienst, das ihm die ewige Dankbarkeit nicht nur seiner katholischen, sondern aller gerecht denkenden Untertanen sichert. Die Zeit wird zeigen, daß sein Blick ungleich weiter reichte, als der seiner überlegensten Kritiker. Härte und Verschlossenheit gegen die Minorität ist eine wohlfeile, aber kurzsichtige Politik; dem Schwächeren gerecht zu werden, dazu bedarf es politischer Klugheit und oft persönlicher Entsagung, die sich aber reichlich lohnen.

II. Das gegenseitige Vertrauen und der Friede zwischen Staat und Kirche schufen den Boden, auf dem beide Autoritäten wiederum ihre ganze Kraft entfalten konnten und jede ihren eigenen Interessen wie denen der anderen am besten zu dienen vermochte. In den ersten Zeiten des neuen Reiches war das deutsche Volk in wirtschaftlichen und materiellen Fragen nahezu aufgegangen. Mit der Zeit aber erwachte wieder das Verständnis für ideale Bestrebungen und damit auch für Religion und kirchliches Leben.

Zunahme der Katholiken; kirchl. Organisation.

Die Zahl der Katholiken im Deutschen Reiche ist gewachsen entsprechend der Gesamtzahl der Bevölkerung, zeitweilig auch weit über das prozentuale Verhältnis hinaus. Diese Erscheinung kann verschiedene Ursachen haben; immerhin dürfte sie aber dafür sprechen, daß die konfessionelle Minderheit sich im Reiche behaglich fühlt. Die kirchliche Organisation war, soweit der Kulturkampf sie zerstört hatte, bereits wieder unter Wilhelm I. in den früheren geordneten Zustand gebracht worden, und ist es unter dem neuen Kaiser stets geblieben. Neben fünf Kirchenprovinzen (Köln, Gnesen-Posen, München, Bamberg, Oberrhein) mit ebensovielen Erzbistümern und vierzehn Suffraganbistümern bestehen sechs dem Römischen Stuhl unmittelbar unterstellte (exemte) Bistümer (Breslau, Ermeland, Hildesheim, Osnabrück, Straßburg, Metz), ferner drei apostolische Vikariate (Nordische Missionen Deutschlands, Sachsen, Anhalt) und zwei apostolische Präfekturen (Lausitz, Schleswig-Holstein); außerdem gehören kleine Teile Schlesiens zu den österreichischen Erzbistümern Prag und Olmütz. Der in und unmittelbar nach dem Kulturkampf vorhandene schreiende Mangel an Priestern ist nahezu gänzlich gehoben, die Seelsorge, namentlich auch in Großstädten, ist so wohl organisiert, daß sie auch in katholischen Ländern vergeblich ihresgleichen suchen dürfte, und daß angesichts derselben das päpstliche Lob wohlverdient erscheint. Diese Organisation erstreckt sich auch auf das Militär. Das gute Verhältnis der Hierarchie zur Regierung zeigte sich in den zahlreichen Ehrungen, die den Bischöfen ihrer Stellung entsprechend zuteil wurden. Der Fürstbischof von Breslau, Kardinal Kopp, und der Erzbischof von Köln, Kardinal Fischer, bekamen als Mitglieder

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1031. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/594&oldid=- (Version vom 14.2.2021)