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Gewerbeordnungsnovelle, die Handelsverträge, das Bürgerliche Gesetzbuch für das Deutsche Reich, ausgiebige Bewilligungen für das Landheer wie namentlich für die Marine, die Lieblingsschöpfung des Kaisers, die unserem Volke verheißungsreiche, glänzende Perspektiven eröffnet hat. In der auswärtigen Politik machte das Zentrum es sich „zur Gewissenssache, bis an die äußerste Grenze der Möglichkeit zu gehen, um ohne alle Parteiunterschiede den Reichstag geschlossen an der Seite der Reichsregierung zu halten“. In diesen Vorgängen spiegeln sich ähnliche auf anderen Gebieten ab. Überall ist auch bei Elementen, die hierfür am wenigsten zugänglich schienen, ein Wandel erfolgt, wie man ihn ein Jahrzehnt vorher in den kühnsten Träumen nicht zu ahnen gewagt hätte.

Verstimmung der Kurzsichtigen.

Freilich konnte diese für jeden Verständigen hocherfreuliche Entwickelung sich nicht vollziehen, ohne daß ein rückständiges Epigonentum von entgegengesetzten Seiten her seinem Mißfallen Ausdruck gegeben hätte. Aber wenn eine Politik lediglich von Schlagwörtern lebt, die durch die Umgestaltung der realen Verhältnisse längst ihres Gehaltes entleert wurden, so kann ihre absprechende Kritik nur eine Gegenprobe für die Richtigkeit des Geschehenen bedeuten. Die einen fanden, daß die katholische Partei unter Windthorst „energischer und oppositioneller“ gewesen sei, und sahen in deren Zusammengehen mit anderen Fraktionen einen Abfall von den alten Traditionen. Als ob Opposition um jeden Preis und in jedem Falle Aufgabe des Katholiken wäre, als ob er nicht mitwirken dürfte, ja müßte, wenn es gilt, ohne Verletzung seiner religiösen Überzeugung eine dem Reiche förderliche Maßnahme zu treffen, auch wenn diese nur mit schweren Opfern durchzusetzen ist! Die Berufung auf Windthorst war um so törichter, als dieser selbst unter den veränderten Verhältnissen von seiner alten Politik abgegangen war. – Aber die Rückständigkeit machte sich nicht nur auf der einen Seite geltend. An der Schwelle des Jahres 1899 mußte der Spektator es als „sehr bedauerlich und befremdlich“ beklagen, „daß gerade in dem Augenblicke, wo die Katholiken sich anschicken, an der nationalen Arbeit stärkeren und aufrichtigen Anteil zu nehmen, innerhalb des protestantischen Heerlagers eine gesteigerte Gereiztheit und gehäufte Anklagen gegen den ‚Papismus‘ sich einstellen“. Auch wir können mit unserer Überzeugung nicht zurückhalten: oftmals wäre die Kritik an unserem Kaiser nicht so herb gewesen, wenn er weniger der Gerechtigkeit und des Wohlwollens auch gegen die Minorität sich beflissen hätte. Wer „eine protestantische Politik als höchste Aufgabe deutscher Staatsleitung“ noch am Ende des neunzehnten Jahrhunderts fordern konnte, der wird natürlich immer scheel dazu sehen, wenn die Regierung nicht einfach ein Drittel der Bevölkerung zur Opposition zu verdammen sich entschließt, und wer noch im zwanzigsten Jahrhundert Preußen einen „evangelischen Staat“ nennt, an der Spitze des Reiches ein „evangelisches Kaisertum“ sieht, nachdem jener Staat seit mehr denn anderthalb Jahrhunderten paritätisch ist und unsere Reichsverfassung ein deutsches, kein konfessionelles Kaisertum kennt – mag auch der Kaiser evangelisch sein –, der wird über die vom Recht und den realen Verhältnissen geforderte Politik Wilhelms II. mißvergnügt sein, er zeigt aber auch,

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1030. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/593&oldid=- (Version vom 14.2.2021)