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bleiben muß und kann. Insofern nämlich, als sie sich als Ganzes und in ihren einzelnen Gliedern und Dienern stets von neuem zu jenem Lebensprinzip der Reformation, zu ihrer ursprünglichen Heilserfahrung in Jesus Christus und damit zu der Kraft bekennt, die auch ihr Leben hervorbringt und trägt. Diesen und keinen anderen Sinn hat das „bekennen“ und „Bekenntnis“ sowohl im Urchristentum als auch in der Reformation gehabt, aber in der Epigonenzeit ist er verloren. Zu diesem ursprünglichen Sinn des Bekenntnisses sollen wir zurückkehren.

Neuer Sinn der Bekenntnisverpflichtung.

Damit ist auch der künftigen Bekenntnisverpflichtung der Weg gewiesen. Über den Sinn solcher Verpflichtung wird gegenwärtig heiß gestritten. Klar ist zweierlei, einmal, daß keine Kirche ohne Bekenntnis und Bekenntnisverpflichtung bestehen kann. Sodann, daß eine Verpflichtung im alten Sinn, d. h. eine Verpflichtung auf den gesamten Lehrinhalt eines Corpus doctrinae heutzutage unmöglich ist. Ein ehrlicher Ausweg aus diesem Dilemma ist nur möglich, wenn die Verpflichtung das Bekenntnis zu dem reformatorischen Grunderlebnis bedeutet, mit dessen nicht irrtumsloser Deutung sich die einzelnen Glaubensartikel beschäftigen. Hinter dieser tieferen Auffassung der Bekenntnisverpflichtung bleiben solche Verpflichtungsformeln zurück, welche anstatt des vollen Tenors der reformatorischen Heilserfahrung einzelne, noch dazu willkürlich ausgewählte „Glaubensartikel“ enthalten.

Schranke in der Verpflichtung.

Ein solches Bekenntnis zu den Lebensprinzipien der Reformation, wie es in der evangelischen Kirche zum wenigsten jedem Amtsträger muß zugemutet werden können, begründet auch ein bestimmtes Maß von gemeinsamer Erkenntnis, welches den Radikalismus und Monismus von selber ausschließt. Es enthält, wiewohl nicht in erster Linie lehrhafter Art, doch eine deutliche Begrenzung der Lehrfreiheit, die nicht überschritten werden darf. Andererseits aber läßt sie den dogmatischen Spielraum, den der einzelne auf reformatorischem Boden beanspruchen kann. Der Radikalismus wird sich eher mit einer Formel, die den Lehrgehalt, als einer solchen, die den Lebensgehalt der Reformation zum Ausdruck zu bringen sucht, abfinden. Jene kann er leichter umdeuten als diese. Ein unfehlbares Mittel aber, andersgläubige Bewerber mit Sicherheit von den kirchlichen Ämtern fernzuhalten, hat nicht einmal die strengste Form der Konfessionskirche gefunden. Es kann also auch der modernen Kirche billigerweise nicht zugemutet werden.

Spielraum in der Verpflichtung.

Allerdings wird es nicht die Aufgabe der modernen Kirche sein können, dem theologischen und kirchlichen Liberalismus das Heimatsrecht zu wehren. Eine doppelte Erkenntnis bricht sich in dieser Beziehung immer mehr auch in positiven Kreisen Bahn. Einmal, daß „positiv“ und „liberal“ keineswegs gleichbedeutend ist mit „gläubig“ und „ungläubig“. Sodann, daß die evangelische Kirche dem Liberalismus außerordentlich viel zu danken hat. Er ist der Träger eines für den Protestantismus völlig unentbehrlich

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1019. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/582&oldid=- (Version vom 20.8.2021)