Seite:Deutschland unter Kaiser Wilhelm II Band 2.pdf/581

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

wie einst in dem Bewußtsein der restlos durchgeführten Lehreinheit, sondern in dem durch das Evangelium, durch Christus und seinen Geist tatsächlich erzeugten Lebensgemeinschaft. Die Kirche hat sich immer mehr aus einer primären Lehrgemeinschaft zu einer primären Lebensgemeinschaft fortgebildet. Das zeigt ein Blick auf die Arbeit, die sie im 19. Jahrhundert getan hat. Das Leben der evangelischen Kirche ist schon durch den Pietismus im 17.–18., vor allem aber durch die Aufgaben des 19. Jahrhunderts auf eine höhere Stufe gehoben. Könnten die Alten wiederkehren, so würden sie staunen über die Lebensbereicherung und -vertiefung, die sich vollzogen hat. Der erste Schritt dazu war schon die Union. Wie Schleiermacher in der Theologie den Lebenscharakter der Religion gegenüber ihrem Lehrcharakter geltend gemacht hat, so hat sich auch praktisch im Leben der Kirche der Schwerpunkt immer mehr aus der Theorie in die Praxis verschoben, und diese Verschiebung bedeutet Fortschritt. Die evangelische Kirche hat, aufgewühlt von Lehrstreitigkeiten, immer mehr ihr eigentliches Wesen in der Aktivität, der Energie gefunden, die das Evangelium in der Erfüllung praktischer Aufgaben entfaltet. Die tatsächlich kirchenbildende Kraft des Protestantismus in unserer Zeit beruht nicht in erster Linie in einem zu einer bestimmten Zeit ausgebildeten klassischen Lehrtypus, sondern in einem ursprünglichen und charaktervollen evangelischen Lebenstypus, der sich in der Geschichte machtvoll durchsetzt.

Bekenntnisgemeinschaft in tieferem Sinne.

Damit soll ganz gewiß nicht einem ideen- und bekenntnislosen undogmatischen „praktischen Christentum“ das Wort geredet werden. Die entscheidende Frage ist nur die, was in den Bekenntnissen und am Bekenntnis der Reformation das tiefste tragende Fundament unserer Kirche bildet. Dieses verlassen, würde allerdings heißen, die Kirche preisgeben. Dieses tiefste, bleibende Fundament liegt aber nicht in der Lehrtheorie, in der es sich der damaligen Zeit allerdings darstellte, sondern in der ursprünglichen, allein durch Christus gewonnenen, im Neuen Testament gefundenen Heilserfahrung. Sie bildet den Kern des Bekenntnisses und damit die bleibende Lebensgrundlage der evangelischen Kirche. Sie allein ist auch, wie gerade die „positive“ Theologie des 19. Jahrhunderts bewiesen hat, die Voraussetzung, die Quelle aller religiös-christlichen Erkenntnis. Ja, Theologie und Praxis der Kirche haben beide dieses eine mit der größten Klarheit ergeben, daß der letzte tragende Grund evangelischer Kirchengemeinschaft in einem aller Theorie vorausliegenden Lebensprinzip besteht. Dieses ist es, welches alle wahren evangelischen Christen mit demselben Geiste beseelt und ihnen die gemeinsame Lebensrichtung gibt. Dadurch erst, daß sie alle in diesem gemeinsamen Grunderleben stehen, und nicht schon durch die Anerkennung einer Lehre schließen sie sich zu einer Bekenntnisgemeinschaft im Geist und in der Wahrheit zusammen. Wo das zur Erkenntnis kommt, greift eine ganz andere Innerlichkeit und Tiefe Platz, als die altprotestantische Kirchenauffassung jemals zum Ausdruck gebracht hat.

Bleibender Bekenntnischarakter.

Hier wird es deutlich, in welchem Sinne unsere evangelische Kirche immer Bekenntniskirche

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1018. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/581&oldid=- (Version vom 20.8.2021)