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welches heute noch zahllose Volksgenossen, wenn auch zunächst nur äußerlich mit der evangelischen Kirche verknüpft, würde zerschnitten. Große Massen der Bevölkerung würden dann völlig kirchenlos – eine Beute des Naturalismus werden. Eine weitere Konsequenz wäre die Aufhebung der theologischen Fakultäten und damit die Seminarisierung der theologischen Bildung. Welche Rückwirkung diese Folgen nicht nur auf das religiös-kirchliche, sondern überhaupt auf das kulturelle Leben unseres Volkes ausüben würde, kann gar nicht pessimistisch genug vorgestellt werden.

Kirchlicher „Zweckverband“.

Ebenso undurchführbar erscheint das neueste kirchenpolitische Projekt, welches von verschiedenen Seiten als All-Heilmittel für unsere kirchlichen Schäden empfohlen wird. Danach soll die Kirchengemeinschaft zwischen den Alt- und Neugläubigen nur noch in Form eines die gemeinsame Regelung der äußerlichen Geschäfte beider Teile bezielenden Zweckverbandes fortbestehen, im übrigen aber eine völlige kirchliche Scheidung zwischen „Positiven“ und „Liberalen“ durchgeführt werden. Aber dieser Vorschlag geht von der grundfalschen Voraussetzung aus, als wären „positiv“ und „liberal“ auch in Wirklichkeit und nicht nur in den Köpfen der Ideologen zwei scharf abgegrenzte, sich absolut ausschließende religiöse Standpunkte, unter die sich alle Theologen und Laien subsumieren ließen, und stellt zudem die bedenkliche Aufgabe, die momentanen Gegensätze in der Kirche in Permanenz zu erklären, anstatt sie zu überwinden. Auch müßte ja eine Kirche, welche die innere Gemeinschaft grundsätzlich preisgibt, die äußere aber aus praktischen Gründen festhält, als ein sehr opportunistisches Gebilde erscheinen.

Gesunde Kirchenpolitik.

Die Aufgabe einer gesunden Kirchenpolitik kann ebensowenig die Repristination der altprotestantischen Lehrbekenntniskirche, als die immer stärkere Isolierung und Absperrung der in der Kirche vorhandenen Parteien und Sonderbestrebungen sein. Die Richtung, die sich für sie aus der Entwicklung der letzten Jahrzehnte immer deutlicher ergibt, ist eine größere Zusammenfassung und Konzentrierung der in ihr lebendigen Kräfte. Dazu bedarf es freilich vor allem der Überwindung der inneren Gegensätze in der Kirche, in unserem kirchlichen Leben. Sie ist freilich auf dem Boden einer bloß rückwärts schauenden Restauration ebenso unmöglich, wie vom Standpunkte eines Radikalismus aus, der mit den religiösen Grundlagen und der historischen Kontinuität des kirchlichen Lebens gebrochen hat.

Nicht Lehreinheit, sondern Lebensgemeinschaft.

Der evangelische Kirchenbegriff hat namentlich im Laufe der Entwicklung des letzten Jahrhunderts viel stärker innerlich als äußerlich eine bedeutsame Wandlung in Richtung auf seine evangelische Vertiefung und Erweiterung durchgemacht. Das gilt es vor allem zu erkennen, wenn man den Übergang vom Alten zum Neuen finden will. Die evangelische Kirche ist trotz aller Erschütterungen ihres Körpers nicht tot. Sie lebt allerdings nicht mehr in erster Linie

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1017. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/580&oldid=- (Version vom 20.8.2021)