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Dogmen kennt, aus seinem innersten Wesen heraus eine beständige Kritik, Revision und Weiterbildung des Dogmas. Die evangelische Lehre wird nie fertig. Es ist unzulässig, daß solche, die das ignorieren, sich in besonderem Maße als Erben der Reformation fühlen.

Hinfälligkeit der äußeren Grundlagen der altprotest. Kirchenform.

Aber auch die äußeren Bedingungen der Wiederherstellung der altprotestantischen Kirchenform: der konfessionelle Staat oder die Staatskirche in optima forma, die ungebrochene Kirchen- und Lehrzucht und die Herrschaft der Kirche über die Schule sind nahezu verloren gegangen. Mit der grundsätzlichen Trennung von Staat und Kirche, der Durchführung der Parität im Staatsleben, der Emanzipation der Schule von der Kirche, der Zivilstandsgesetzgebung und Freizügigkeit, der Freiheit der Wissenschaft und Forschung auf den Universitäten und der fortschreitenden Erweichung der Lehrzucht sind allerdings die äußeren Bedingungen für die Existenz der Kirche in jener alten Form dahingefallen. Die Reste, welche davon hie und da noch übrig geblieben sind (am meisten wohl in Mecklenburg), reichen zu einer Wiederherstellung des Alten nicht aus und sind überdies im Schwinden begriffen. Nur eine radikale politische Reaktion könnte der alten Kirchenform wieder zu ihrem alten Dasein verhelfen.

Angesichts dieser Lage der Dinge muß die Kirchenpolitik derer, welche alles Heil der Kirche darin sehen, daß möglichst viel von diesen Resten gerettet wird, kurzsichtig genannt werden. Ebenso aber diejenige derer, welche sich eine Repristination der Bekenntniskirche von noch weiterer oder sogar vollständiger Trennung der Kirche vom Staate versprechen.

Keine Verfassungsänderungen.

Geistige Entwicklungen lassen sich durch Verfassungsänderungen ganz gewiß nicht zurückdämmen, am wenigsten auf dem religiösen Gebiete. Auch in die Freikirchen und Sekten dringt, wie das Beispiel Amerikas und Englands zeigt, der moderne Geist unaufhaltsam ein. Er wird, wie man schon jetzt deutlich beobachten kann, auch vor den deutschen Freikirchen nicht haltmachen. Ja, auf freikirchlichem Boden werden die Gegensätze noch viel schärfer aufeinanderstoßen, die Kämpfe noch viel heftiger entbrennen, als da, wo der Staat mit seinen moderierenden Einflüssen hinwirkt.

Keine weitere Trennung von Kirche und Staat.

Die völlige Trennung der Kirche vom Staat würde zu einer Menge von privaten Kirchenbildungen führen und damit die religiöse und konfessionelle Zerrissenheit Deutschlands noch vergrößern, das politische Leben erschweren. Den Vorteil davon würde nur Rom und der Monismus haben. Der Staat aber hat sicherlich kein Interesse an einer noch weiteren Zerklüftung des Protestantismus. Die reformatorische Kirche aber, in lauter einander befehdende Teile aufgelöst, würde nicht nur ihre materielle, sondern auch ihre volkskirchliche Aufgabe nicht mehr erfüllen können. Das Band,

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1016. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/579&oldid=- (Version vom 20.8.2021)