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innerliche und äußerliche Erweiterung des evangelischen Kirchengedankens, der eine hoffentlich nicht mehr allzu ferne Zukunft gehören wird. Niemand kann dafür ein schärferes Auge und ein tätigeres Interesse beweisen als der Kaiser. Es ist kein Zufall, daß gerade seiner Regierung dieser Aufschwung der kirchlichen Arbeitsgemeinschaften vorbehalten blieb. Die erfreuliche Jubiläumsspende für die deutsche Kolonialmission ist die Quittung für die intellektuelle und materielle Mitarbeit des Kaisers und seines Hauses an den umfassenden Aufgaben der evangelischen Kirche.

Innere Mission. Soziale Frage.

Die Innere Mission hat sich in den letzten Jahrzehnten außerordentlich entwickelt, erweitert, vereinheitlicht, vertieft. In großer Zahl sind ihr neue Vereine, Anstalten und Arbeitsfelder entstanden. Persönlichkeiten wie Bodelschwingh und Stöcker haben die fruchtbarsten Impulse gegeben. Stöcker ist durch das gewaltige Werk der Berliner Stadtmission der Vater einer sich nachgerade über alle Groß- und Mittelstädte erstreckenden Stadtmissionstätigkeit geworden. Bodelschwingh hat in den letzten Jahren seines Lebens die Augen geöffnet für die Riesenaufgaben, die aus der Not der vagabundierenden, heimat- und arbeitslosen Bevölkerung erwachsen. Mächtige Anstöße gab nach vielen Richtungen hin die soziale Frage und die soziale Gesetzgebung des Reiches. Zwar hat hier die Kirche lange Zeit gebraucht und viel Lehrgeld zahlen müssen, ehe sie zu begreifen anfing, wo ihre sozialen Aufgaben liegen und wo nicht. Der soziale Übereifer auf kirchlichem Boden, der in der Stöckerschen Bewegung kirchlich und evangelisch nicht unbedenkliche Wege einschlug und Übergriffe der Religion und ihrer Vertreter in das politische und gesetzgeberisch-technische Gebiet verursachte, hat längst ein ruhigeres und besonneneres Tempo eingeschlagen. Von den beiden ursprünglich vereinten freien Organisationen, welche den sozialen Gedanken in seiner Beziehung zur Kirche und Religion grundsätzlich vertreten, sucht der freier gerichtete Evangelisch-soziale Kongreß sein Ziel vor allem durch gründliche Orientierung über die sozialen Probleme und Aufgaben unserer Zeit sowie durch Weckung sozialer Gesinnung zu erreichen, während die kirchlich-soziale Konferenz, in engster Berührung mit der Kirche und Praxis stehend, für unmittelbare Anregungen und Anstöße zu sozialer Arbeit sorgt. Daneben gewinnt auch in der Arbeit der Inneren Mission im engeren Sinne das soziale Element immer mehr an Einfluß. Es ist zu hoffen, nachdem seit 1908 der Geist Wicherns wieder lebendiger zum Bewußtsein gekommen ist, daß die Innere Mission in ihrer umfassenden Arbeit immer mehr die organische Verbindung zwischen dem religiösen und dem sozialen Gesichtspunkte findet. Unter ihren besonders ausgebauten alten und den hinzugekommenen neuen Aufgaben seien besonders hervorgehoben: die Organisierung der Arbeit an der Presse, die männliche und weibliche Diakonie, die Fürsorgeerziehung und die Jugendarbeit, die Krippen- und Krüppelpflege. An einem außerordentlich wichtigen Punkt aber hat sie sich den Anforderungen der Zeit neuerdings in besonderem Maße erschlossen und dadurch einen wichtigen Schritt vorwärts getan, daß sie sich unter dem Eindruck der akuten Weltanschauungskrisis, die etwa um die Wende des Jahrhunderts über uns kam und alle Kreise der Bevölkerung ergriff, mit großem Eifer der Mitarbeit

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1011. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/574&oldid=- (Version vom 20.8.2021)