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Keine grundsätzliche Kirchenfeindschaft.

Trotz alledem kann man nicht sagen, daß sich die neue Frömmigkeit, die im Werden begriffen ist, durchweg grundsätzlich gegen die Kirche ablehnend verhielte. Im Gegenteil macht sich in letzter Zeit vielfach das Bedürfnis nach einer neuen Kirchlichkeit geltend, und Ansätze zu ihr sind vorhanden, deren verständnisvolle Pflege und Weiterbildung die Hauptaufgabe der kirchlichen Gegenwart ist. Es scheint bisweilen, als habe die früher geschilderte moderne Unkirchlichkeit in bestimmten Kreisen ihren Höhepunkt nicht bloß erreicht, sondern auch schon überschritten. Allerdings wird man sich schon jetzt nicht verhehlen können und dürfen, daß die neue Kirchlichkeit, die wir kommen sehen, ein anderes Gepräge tragen wird als die der hinter uns liegenden Zeit. Die moderne Frömmigkeit wird im großen und ganzen die Beteiligung am Kultus der Kirche nicht mehr in erster Linie als religiöse Pflicht empfinden. Ererbte Sitte und Gewohnheit wirken freilich auch noch in manchen von der neuzeitlichen Lebenswendung unberührter gebliebenen Gegenden nach und werden hoffentlich noch lange nachwirken. Dort jedoch, wo gegenwärtig spontan eine neue Kirchlichkeit entsteht, vor allem in unseren Großstädten, trägt sie einen stark persönlichen, bewußten, temperamentvollen Charakter. Sie bildet sich überall da, wo eine Predigtweise sich energisch zur Geltung bringt, die sich ganz neue aus der Gegenwart entstandene Aufgaben stellt und dem modernen Menschen das alte Evangelium in neuer Weise nahezubringen sucht.

Die großen Arbeitsgemeinschaften in der Kirche.

Die stärksten Garantien für die trotz der tiefgehenden und umfassenden Krisen in ihrem Schoße noch ungebrochene Lebenskraft der evangelischen Kirche liegen auf einem Gebiete, wo dieselbe in letzter Zeit mit immer größerer Entschlossenheit die Wendung zum modernen Leben vollzogen hat, auf dem Gebiete der genossenschaftlichen Organisation ihres Arbeitslebens. In den großen Arbeitsgemeinschaften der Äußeren und Inneren Mission, des Gustav-Adolf-Vereins und Evangelischen Bundes, der evangelisch- und kirchlich-sozialen Bestrebungen, der Gemeindearbeit und Frauenhilfe ist eine staunenswerte kirchliche Energie entfaltet, eine Aktivität, die für die Zukunft noch weit Größeres verspricht als für die Gegenwart. Hier liegen wirklich gewaltige Fortschritte, und auf ihnen beruht die Hoffnung der Kirche. Denn die Arbeit, die hier gemeinsam getan ist und weiter getan wird, hat die Kraft besessen, über die Interessen der Einzelgemeinden, ja der einzelnen offiziellen Kirchengebiete und Kirchenkörper hinaus zahllose evangelische Christen zusammenzufassen und zu verbinden; sie hat sich bis jetzt den Gegensätzen im Innern gewachsen gezeigt und im Sinne des reformatorischen Priestertums aller Gläubigen eine Fülle von Laienkraft für die Reichsgottesarbeit mobil gemacht. Mitten unter den Erschütterungen, denen unsere Landeskirchen ausgesetzt waren, hat hier das volkskirchliche Bewußtsein der evangelischen Kirche eine neue Heimat und neue Ziele gefunden. Hier, wo die großen Aufgaben und Notwendigkeiten des Reiches Gottes zur Arbeit drängen, entfaltet das Evangelium seine zentripetale Kraft. Und darin vollzieht sich eine

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1010. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/573&oldid=- (Version vom 20.8.2021)