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und Verständnis für religiöses Leben, insbesondere für die Gestalt Jesu in den letzten Jahren bedeutend zugenommen. Dieser Umschwung läßt sich aber weder aus der vom Ausland zu uns gekommenen, in verschiedenen Formen bei uns eingebürgerten und bis in die Kreise unserer Studentenschaft vorgedrungenen religiös-christlichen Jugendbewegung, noch aus den parallelen vereinsmäßigen Bestrebungen der organisierten Inneren Mission erklären, soviel auch diesen Bestrebungen zu danken sein mag. Vielmehr ist in unserer deutschen Jugend augenblicklich offenbar etwas Selbständiges, Spontanes, Bodenständiges im Werden begriffen, das sich vielfach unter ungünstigen Umgebungsbedingungen, ja mitten unter den Miseren des modernen Religionsunterrichtes emporgearbeitet hat und in einer gesunden Reaktion gegen das Krankhafte, Enge und Beschränkte des vom Auslande importierten religiösen Geistes begriffen ist. Jedenfalls schlägt die deutsch-christliche Studentenbewegung in steigendem Maße gesunde Bahnen ein.

Die Gemeinschaftsbewegung.

In diesem Zusammenhange ist auch die Gemeinschaftsbewegung zu nennen, deren Auftreten und Verbreitung für das hinter uns liegende Menschenalter charakteristisch ist. Sie ist zwar wie zahlreiche Sekten, welche inzwischen in unser zerklüftetes evangelisches Kirchengebiet eingedrungen sind, englisch-amerikanischer Herkunft und trotz ihrer außerordentlichen Propaganda im großen und ganzen auf bestimmte innerkirchliche Kreise beschränkt geblieben, während von einer nennenswerten Gewinnung der entchristlichten Volksmassen durch ihre Evangelisation und Gemeinschaftspflege nicht die Rede sein kann. Aber sie vermochte ihren tatsächlichen Einfluß doch nur dadurch zu erreichen, daß sie sich starker religiöser Bedürfnisse bemächtigte, welche die Kirche in ihrer damaligen Verfassung nicht zu befriedigen vermochte. Irren wir nicht, so beginnt sich auch in den Kreisen des sonst als kirchenfeindlich bekannten Flügels der Gemeinschaftsbewegung ein gesünderer, weltoffenerer und selbständigerer Geist, der seine Zufuhr aus jenen neuen nationalen, idealistischen und religiösen Impulsen unserer Zeit zu erhalten scheint.

Nähere Bestimmung des Umschwungs.

Ein Dreifaches ist noch zur näheren Bestimmung der im Entstehen begriffenen Wendung zur Religion zu bemerken. Einmal liegt es in der Natur der Sache, daß die Ankündigungen des Neuen, das da werden will, in einem Augenblick, wo noch alles im Stadium der ersten Vorbereitung liegt, mehr Gegenstand feinfühliger Empfindung als greifbarer Wahrnehmung ist. Sodann geht zweifellos diese Bewegung einen Weg, der sich der allgemeinen Beobachtung entzieht, den Weg von oben nach unten, denselben Weg, den auch seinerzeit der Unglaube gegangen ist. Endlich aber marschiert, wie überhaupt oft in der Geschichte der Frömmigkeit, die moderne Religiosität keineswegs ohne weiteres pari passu mit der Kirchlichkeit. Aus den Gründen sind nicht wenige kirchliche Beobachter, welche nach den greifbaren Merkmalen, volkstümlichen Ursprüngen und kirchlichen Tendenzen einer neuen Frömmigkeit suchen, überhaupt abgeneigt, die Tatsache einer Wendung zum Besseren zuzugeben.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1009. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/572&oldid=- (Version vom 20.8.2021)