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in der Selbstbesinnung auf die tiefsten Grundlagen des Lebens die Kraft und Konzentration aufträgt, um die durch die christliche Offenbarung, durch das Evangelium Christi und von Christo in der Geschichte als Erlösung eingetretene höchste geistig-göttliche Wirklichkeit vom neuem in ihrer ganzen Tiefe und Nacht zu erleben und aus diesem Erleben heraus eine neue unerschütterliche Grundlage für das geistige Leben unseres Volkes zu gewinnen. Dieses Streben unterscheidet sich nicht nur von dem sentimentalen Spiel mit religiösen Stimmungen, sondern auch von dem schnell fertigen und bequemen Rezept einer bloß repristinierenden Orthodoxie. Hier liegt die denkbar ernsteste Aufgabe vor: die transzendenten Lebenswerte des Christentums, befreit von der Zufälligkeit ihrer zeitgeschichtlichen Umhüllung, in einer umfassenden Welt- und Lebensauffassung dem Geschlechte der Gegenwart so eindrücklich zu machen, daß ein neues tiefes Leben entstehen kann.

Eine ganze Literatur, unter der die Euckenschen Schriften führend hervorragen, ist im Entstehen begriffen, durch die sich in bewußter Weise eine neue lebendige Verbindung zwischen dem neuen Idealismus und dem geschichtlichen Christentum anbahnt. Es ist aber für den Beobachter des gegenwärtigen geistigen Lebens ganz gewiß, daß sich dieselbe Verbindung in unbewußter Weise in zahlreichen tiefen Gemütern heutzutage vollzieht. Die neue Kombination, die gegenwärtig philosophisch-theologisch herausgearbeitet wird, ist darum nicht künstlich gemacht, sondern nur die gedankliche Gestaltung eines tiefen Erlebens, das die Besten unserer Zeitgenossen ergriffen hat.

Gewiß ist das, was ich hier theoretisch und praktisch gestalten will, noch im ersten Werden begriffen und darum noch vielfach ungeklärt und unfertig. Aber wir verstehen unsere Zeit überhaupt nur, wenn wir sie als Übergangszeit verstehen. Unter diesem Gesichtspunkte aber muß auch die werdende Frömmigkeit gewertet werden, wenn ihre Bedeutung für die Zukunft nicht verkannt werden soll.

Heutige Bedeutung der Gestalt Jesu.

Eines der deutlichsten Symptome für das neue religiöse Werden ist die staunenswerte intensive und extensive Beschäftigung unserer Zeit mit der Gestalt Jesu. Eine Jesusliteratur, wie sie keine Zeit aufzuweisen hat, liegt vor uns. So wunderlich und mannigfaltig sich auch sein Bild in den so unendlich verschiedenen Köpfen derer spiegelt, die von allen möglichen Lebensgebieten und Seelenverfassungen aus sich mit ihm auseinandersetzen müssen, – die außerordentliche Rolle, welche seine Person seit einigen Jahrzehnten in der Gedankenwelt der geistig Lebendigen unter uns zu spielen beginnt, drängt sich nur um so stärker auf. Alles, was gegenwärtig in der Philosophie nach neuer Lebensanschauung, in der Dichtung nach neuer Lebensgestaltung, in der Sozialpolitik nach neuer Lebensordnung ringt, fühlt sich gedrungen, zur Persönlichkeit Jesu Stellung zu nehmen. Wir stehen in den Anfängen einer neuen Periode von Jesuswirkungen umfassender Art.

Stellungnahme der Jugend.

Nicht zum wenigsten macht sich das bei der Jugend bemerkbar. Hier hat Empfänglichkeit, Sinn

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1008. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/571&oldid=- (Version vom 20.8.2021)