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literarisch und philosophisch gegenwärtig erlebt. Man braucht nur zweier Tatsachen sich zu erinnern, einmal, daß fast die gesamte Literatur nicht nur unserer Klassiker, sondern auch unserer idealistischen Philosophen in neuen Ausgaben vor uns liegt; sondern, daß eine Philosophie und Weltanschauungslehre sich gegenwärtig machtvoll Bahn bricht, die sich ihrer Abstammung von unseren großen deutschen Idealisten deutlich bewußt ist. Dadurch aber wird auch die Herkunft des religiösen Aufschwungs klar, der sich anzubahnen beginnt. Denn die tiefsten Wurzeln des Idealismus sind stets religiöser Natur gewesen und mit dem Grundgedanken des Christentums auf das engste verwachsen. Das trat vor allem in der nationalen Erhebung von 1813 hervor.

Ringen nach idealistischer Weltanschauung.

Gewiß, ebensowenig wie sich dieser neue Weltanschauungsidealismus bereits in der gegenwärtigen Philosophie überall negierend durchgesetzt hat, kann die Wendung zu religiösem Leben als eine vollendete Tatsache angesehen werden. In der Philosophie liegen die Dinge so, daß, wiewohl der rein naturalistische Monismus, sei es in Haeckelscher oder in Ostwaldscher Gestalt, als überwunden anzusehen ist, dennoch die herrschende Philosophie, soweit man von einer solchen reden kann, immer noch sehr stark unter dem Einfluß naturwissenschaftlicher Methode und Begriffsbildung steht. Das beweisen so weit verbreitete Systeme, wie die von W. Wundt, Fr. Paulsen, Ed. v. Hartmann und vielen anderen, in denen es die grundsätzlich naturwissenschaftliche Denkweise nicht zu einem reinen Idealismus kommen läßt. Aber die sachliche Leidenschaft, gedankliche Schärfe und Tiefe, mit der andererseits Männer wie Eucken, Windelband, Rickert, Husserl, Hermann Leser und viele andere darum ringen, unserem Volke die seiner Geschichte und seinem Genius, seinen Gaben und Aufgaben entsprechende echt idealistische Weltanschauung aus den reichen Quellen der deutschen Vergangenheit neu zu erringen, zeigt schon jetzt, namentlich durch ihre starken Wirkungen auf die akademische Jugend, daß sie sich durchsetzen wird. Die Zahl derer wird täglich größer, die sich um die Fahne des neuen und doch alten Idealismus scharen. Wir haben es mit einer Bewegung zu tun, die weit über das rein akademische Interesse hinausgreift. Diejenigen, welche in dieser Bewegung stehen, sind sich der Tragweite ihres Tuns und Strebens bewußt. Es handelt sich um einen neuen Durchbruch ursprünglich geistigen Lebens in der deutschen Nation. Das ist die große Aufgabe, die zur weltgeschichtlichen Tat werden will, das Leben des deutschen Volkes aus dem naturalistischen Bann, in dem es gefangen liegt, zu befreien und es in allen seinen Funktionen in jener Welt des Geistes, der ewigen Normen und Werte zu verankern, in der die edelsten Kämpfer und tiefsten Denker deutscher Geschichte von jeher die wahre Wirklichkeit empfunden und verehrt haben. Davon, ob dieses Streben zu seinem Ziele kommt, wird das innere Schicksal unseres Volkes abhängig sein.

Überwindung des Intellektualismus und Individualismus.

Um Lebensvertiefung und -gestaltung ringt dieser Idealismus, nicht um Theorien und Abstraktionen. Eine

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1006. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/569&oldid=- (Version vom 20.8.2021)