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der Gegenwart behaupten zu können, die Synthese von Wissenschaftlichkeit und Kirchlichkeit, von Reformation und modernem Leben. Niemand, der diese Arbeit und ihre hervorragenden Resultate auf allen Gebieten der Theologie mit dem Blick der Gerechtigkeit verfolgt, wird leugnen können, daß sie vollen Ernst mit den wissenschaftlichen Methoden der Gegenwart machen. Bücher, wie – um nur wenige und die allerneuesten „positiven“ Erscheinungen zu nennen – Seebergs neue Dogmengeschichte, Feines Neutestamentliche Theologie, Sellins Alttestamentliche Einleitung, Jordans Altchristliche Literaturgeschichte, Heims Gewißheitsproblem sind vollwertige wissenschaftliche Leistungen, welche die Ebenbürtigkeit der modernen kirchlichen Theologie bezeugen. In allen diesen Werken kommt die historische Methode zu ihrem vollen Recht. Und doch erliegt hier nicht die altgläubige Grundposition dem Historismus.

Neue dogmatische Ansätze auf der kirchlichen Seite.

Nicht weniger geben sich unsere jungen kirchlichen Dogmatiker dem wissenschaftlichen Zuge der Zeit hin. Auf allen Gebieten der systematischen Theologie haben sie sich mit dem Historismus und überhaupt mit der modernen Wissenschaft kritisch auseinandergesetzt. In diesen Arbeiten kommen durchweg hüben genau so wie drüben die neuen systematischen Methoden zur Anwendung. Erkenntnistheorie und Psychologie stehen augenblicklich im Vordergrund. Die fruchtbarsten Ergebnisse der Philosophen werden in Anknüpfung an Kant, Schleiermacher, Hegel, überhaupt den deutschen Idealismus und seine gegenwärtige Wiederbelebung zur Begründung des eigenen Standpunktes verwertet. Die Religionsphilosophie kommt durchaus auch hier zu ihrem Recht. Die Probleme und problematische Lage werden in der ganzen Schwere empfunden. Mit der oberflächlichen Apologetik von früher ist es vorbei. Das ernsteste Streben geht nach einer um jeden Preis für die wissenschaftlichen Denkweise einwandfreien Position. Man will nicht mehr kritiklos anerkennen und übernehmen, das kritische Moment überwiegt einstweilen noch. Es geht ähnlich wie bei den neuprotestantischen Religionsphilosophen. Viel Methodisches und Programmatisches, noch wenig Positives. Und doch behaupten sich in dieser kritischen Selbstbesinnung die positiven Werte des alten Glaubens. Sie ringen sich los von veralteten theologischen Formen und drängen zu einem neuen noch im Werden begriffenen Ausdruck.

Daß diese Arbeit von denen, die zwischen Theologie und Glauben noch immer nicht zu unterscheiden wissen – sie sind auf beiden Seiten zu finden – als Halbheit oder noch Schlimmeres gescholten wird, darf ehrliche Arbeiter nicht bekümmern. Es ist auch selbstverständlich, daß es nicht ohne Reduktionen abgeht, und daß bei dem Umgießen der alten Weine in neue Schläuche etwas verschüttet wird.

Der entscheidende Punkt in der Stellung zu der neuen Schule.

So liegt es also – und alles kommt darauf an, die theologische Lage der Gegenwart an diesem Punkte zu erfassen –, daß ein prinzipieller Gegensatz zwischen der modernen kirchlichen und der neuprotestantischen Theologie nicht hinsichtlich der in der Theologie

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1002. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/565&oldid=- (Version vom 20.8.2021)