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nötige. Der religiös-sittliche Gedankeninhalt des Christentums, der nach Beseitigung des kirchlichen Supranaturalismus und Absolutheitsanspruches übrig bleibe, könne, um den Anforderungen moderner Wissenschaftlichkeit zu genügen, nur an eine Religionsphilosophie angeknüpft werden, welche ihrerseits wiederum auf der Basis einer umfassenden idealistischen Metaphysik und Geschichtsphilosophie auf dem Wege erkenntnistheoretischer und psychologischer Untersuchung des religiösen Phänomens zu gewinnen sei. Im einzelnen auf die von Troeltsch selbst und anderen unternommenen Versuche, eine solche christliche Religionsphilosophie zu begründen, hier einzugehen, müssen wir uns versagen. Es ist bisher auch bei bloßen Programmen und Entwürfen geblieben, welche alle auf den deutschen Idealismus irgendwie zurückgehen, und, an sich betrachtet, bedeutsame und fruchtbare religionsphilosophische Anregungen enthalten. So erwünscht aber für die Gegenwart die Verbindung der christlichen Dogmatik mit dem philosophischen Idealismus sein muß, und so bedeutsame Momente speziell die Troeltsch’sche Religionsphilosophie aufweist, so kann man sich doch nicht verhehlen, daß hier die Philosophie allerdings die Selbständigkeit der christlichen Erkenntnis aufhebt, an deren Begründung die Dogmatik des 19. Jahrhunderts ihre beste Kraft gesetzt hat, weil sie in ihr eine Aufgabe sah, welche unserer Zeit durch das reformatorische Verständnis des Christentums gestellt ist. So bedeutet diese neueste aus dem Historismus erwachsene Position in der Tat eine radikale Umwälzung in der Theologie, eine Rationalisierung derselben, die dazu nötigt, hinter Frank und Ritschl, ja Schleiermacher zurückzugehen. Als solche ist sie auch von allen älteren Richtungen empfunden worden. Das beweist der heiße Kampf um die Absolutheit des Christentums, den kirchlichen Supranaturalismus und die Selbständigkeit der Dogmatik, den vor allem Ernst Troeltsch gegen fast alle Dogmatiker unserer theologischen Fakultäten zu führen hatte. Dabei zeigte sich immer deutlicher, daß es sich bei diesem Kampfe nun doch nicht bloß und nicht einmal in erster Linie um Fragen der Wissenschaft, sondern um sehr ernste religiöse Differenzen handelte. Die eindringenden Arbeiten der neuen Schule zur Geschichte der Reformation und des Protestantismus haben auch deutlich genug bewiesen, daß ihre religiöse Gedankenwelt und Weltanschauung, wie ihnen selbst bewußt genug ist, nicht in der Reformation, sondern in der Aufklärung wurzelt. Alle Theologen des 19. Jahrhunderts, die um Hegel und die um Schleiermacher, der ältere Liberalismus und die Vermittelungstheologie, die Erlanger und die Schüler Ritschls, hatten unbeschadet großer Gegensätze in der Auffassung des Christentums, doch alle mit gleicher Energie als einen gemeinsamen Grundbesitz den Absolutheitscharakter und das reformatorische Wesen des Christentums behauptet. Wir haben es in diesem „Neuprotestantismus“ mit einer Theologie zu tun, die den Grundgedanken der Reformation gegenüber ein Abstandsgefühl zeigt, wie es in solcher Stärke auf dem Boden der evangelischen Kirche noch nicht hervorgetreten ist.

Notwendigkeit der Auseinandersetzung.

Es ist darum nicht zu verwundern, wenn die Kirche mit schweren Sorgen dieser Entwicklung der Theologie gegenübersteht und die Gefahr empfindet, daß in ihr

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1000. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/563&oldid=- (Version vom 20.8.2021)