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besteht darin, daß die literarkritische Betrachtungsweise, mit der jene in erster Linie arbeitet, zur „religionsgeschichtlichen“ erweitert worden und als solche auf das ganze Gebiet der Theologie bis in die neueste Kirchengeschichte ausgedehnt worden ist. Der Offenbarungspositivismus, an dem noch Ritschl und seine Schüler mit Energie festhielten, wird hier als das größte Hindernis des historischen Verständnisses des Christentums und der Kirche völlig beseitigt, die Schlagbäume zwischen der biblischen und der allgemeinen Religions- und Kulturgeschichte abgebrochen. Das Christentum in allen Stadien, seine neutestamentliche und kirchengeschichtliche Entwicklung wird zu einem Ergebnis des allgemeinen religionsgeschichtlichen Prozesses. Sein besonderer Offenbarungs- und Absolutheitsanspruch fällt dahin. Die heilsgeschichtliche und supranaturalistische Betrachtungsweise wird grundsätzlich abgelehnt. Das Christentum ist wie alle anderen Religionen als eine rein historische Größe zu erforschen nach den allgemeinen Regeln der historischen Methode, den Gesetzen der Analogie, Correlation und Relativität. Dabei sind der Immanenzgedanke und die Entwicklungstheorie maßgebend.

Errungenschaften der neuen Methode.

Es kann Zweifel sein, daß diese Forschungsweise einen gewaltigen Fortschritt für die wissenschaftliche Erkenntnis des Christentums bedeutet. Sie hat sich bereits als außerordentlich fruchtbar erwiesen, zu einer umfassenden Revision aller bisherigen, zum großen Teil vermeintlichen Ergebnisse der historischen Erforschung des Christentums geführt, die Relativität aller geschichtlichen Erkenntnisse gezeigt, zahllose Irrtümer berichtigt, neue Zusammenhänge aufgedeckt, die umfassende Wechselwirkung, in der das Christentum mit der Umgebungswelt gestanden hat und steht, immer deutlicher nachgewiesen, die Herrschaft des Entwicklungsgedankens auch für seine Geschichte erwiesen und die gewaltige allgemeingeschichtliche, geistige und kulturelle Bedeutung der christlichen Religion ans Licht gestellt. Dabei ist der unerschöpfliche Reichtum ihrer Beziehungen zu der allgemeinen Religions- und Geistesgeschichte aller Zeiten zum Bewußtsein gekommen. Es ist dieser Forschung mit einem Wort zu verdanken, daß das Christentum wie nie zuvor im Lichte der Geschichte steht.

Es ist weiter unbezweifelbar, daß diese Resultate weder von der älteren literarkritischen noch der irgendwie kirchlich bestimmten historischen Theologie erreicht worden sind und erreicht werden können. Denn sie beruhen in der Tat in dem grundsätzlichen Absehen von jeder das Christentum irgendwie isolierenden Betrachtungsweise. Das gute Recht dieser Forschungsart ist damit erwiesen. Niemals wird sie als solche rückgängig zu machen sein. Kein einsichtiger Theologe, mag er auf einer kirchlichen Seite stehen, auf welcher er will, wird das wünschen oder fordern können.

Stellungnahme der kirchlichen Theologie.

Auch der kirchlichste Theologe muß ja, wenn er wirklich Vertrauen zu der sich selbst bezeugenden und unzerstörbaren Macht der göttlichen Offenbarung in Christo hat, geradezu fordern, daß die rein historische Methode sich ungehindert und unbeschränkt an dem geschichtlichen Christentum versuche. Er kann ja unmöglich wünschen, daß die

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 998. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/561&oldid=- (Version vom 20.8.2021)