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Deutschlands, Harnacks Dogmengeschichte und viele andere haben durch ihren umfassenden Charakter längst eine weit über das theologische Interesse hinausgehende Bedeutung gewonnen. Die Kultur- und Geistesgeschichte der Antike verdankt der alt- und neutestamentlichen Forschung die wertvollsten Beiträge. Von Theologen veranstaltete Ausgrabungen liefern Ergebnisse von größter kulturgeschichtlicher Bedeutung. Der neuerdings stark hervortretende religionsgeschichtliche Gesichtspunkt in der historischen Theologie fördert die Geschichtswissenschaft an verschiedenen Punkten. Gewisse Zweige der Philologie sind von theologischer Seite außerordentlich befruchtet. Die moderne, von Amerika herübergekommene Religionspsychologie liefert sowohl der allgemeinen Seelenkunde, wie der Psychiatrie neues Material. Die Mitarbeit der systematischen Theologie an den philosophischen Problemen der Gegenwart ist von nicht zu unterschätzendem Wert, die Missionswissenschaft hat außerordentlich anregend auf die linguistische und ethnologische Erforschung der kulturlosen Völker gewirkt.

So hat die Theologie unter der Einwirkung der stets fortschreitenden Lebenserweiterung auf allen Gebieten auch auf dem obigen in dem letzten Jahrzehnt eine ungeheure Gebietserweiterung vollzogen. Während auf der einen Seite die Spezialforschung in oft beängstigender Weise fortschritt, hat sie auf der anderen die universellsten Gesichtspunkte gewonnen. Die sondertheologischen Methoden sind auf allen theologischen Gebieten, wenn nicht beseitigt, so doch stark zurückgedrängt. Die Theologie arbeitet in erster Linie mit allgemeinwissenschaftlichen Prinzipien, die historische nach der historisch-kritischen Methode und ihren Gesetzen, die systematische auf philosophisch-erkenntniskritischer Basis, die Religionspsychologie mit den Mitteln der Experimentalpsychologie usw.

Beschleunigung der Säkularisierung der Theologie.

Mit anderen Worten: In den letzten Jahrzehnten hat sich der Saekularisierungsprozeß in der Theologie ganz außerordentlich beschleunigt. Nicht nur das, er hat bedeutend an Umfang gewonnen und auch die noch isolierten Gebiete und die weitesten Richtungen in seinen Machtbereich gezogen. Denn darin liegt vielleicht das bedeutsamste Moment dieser neuesten Entwicklung, daß allmählich auch die gegenwärtige „positive“, „kirchliche“ Theologie, die Tochter der Neuorthodoxie, wenigstens in ihren einflußreichsten und fruchtbarsten Richtungen und Vertretern, sich immer entschlossener und freier dem universal-wissenschaftlichen Zuge der Zeit hingegeben hat, ohne im geringsten die religiösen Werte und Realitäten der Altgläubigkeit mit der Theologie der Altgläubigkeit aufzugeben. Eine ganz neue Kombination ist auf diese Weise im theologischen Leben der Gegenwart entstanden, die Verbindung: „modern-wissenschaftlich“ mit „positiv-kirchlich“. Die Frage, ob diese Kombination durchführbar, zukunftskräftig oder innerlich haltlos und nur ein Übergangsstadium zum Radikalismus ist, gehört zu den allerentscheidendsten Gegenwarts- und Zukunftsfragen der evangelischen Kirche.

Wirkungen dieses Phänomens.

Auf den ersten Blick mag freilich diese Wandlung der Theologie im letzten Menschenalter

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 994. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/557&oldid=- (Version vom 20.8.2021)