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gemacht. Nein – das alles wäre zu ertragen. Unerträglich dagegen ist für das kirchliche Leben das wie es scheint unkündbare Verhältnis, das sich zwischen den bestimmten kirchlichen und reinpolitischen Parteien sozusagen programmäßig herausgebildet hat. Jeder Deutsche weiß, daß politisch konservativ und kirchlich positiv und politisch liberal und kirchlich liberal als unlöslich zusammengehörige Begriffe gelten, sozusagen als korrelate Größen, auf Gegenseitigkeit gegründet. Diese Bezeichnungen stammen bereits aus der Zeit der politischen Reaktion und des älteren Liberalismus und haben alle politischen Wandlungen der Parteien mitgemacht. Die kirchlichen Parteien pflegen ihre politischen Kartellbrüder bei den Wahlen zu unterstützen, während diese wiederum in den Parlamenten für jene eintreten. Sehr charakteristisch für dieses Verhältnis ist, daß bei oder nach großen politischen Wahlen häufig auch die kirchlichen Parteikämpfe ausbrechen. Dieses Schauspiel erlebten wir noch jüngst nach den letzten Reichstagswahlen. Daß diese offizielle Verbindung dem Evangelium und dem Geiste der Reformationskirche widerspricht, daß sie die Kirche – denn sie ist doch hier im Unterschiede von der mit dem Zentrum verbundenen Römischen Kirche der leidende Teil – in ein geradezu unwürdiges Abhängigkeitsverhältnis von weltlichen Faktoren bringt, daß sie in den Köpfen unserer Gemeindeglieder eine heillose Verwirrung hervorruft, dafür scheint vielen Kirchenpolitikern völlig das Bewußtsein verloren gegangen zu sein, für so selbstverständlich halten sie diesen Zustand. Ja gerade diejenigen, die am lautesten nach Trennung von Staat und Kirche rufen, kultivieren am meisten dieses Verhältnis von Staat und Kirche, dem gegenüber jenes andere wahrlich harmlos zu nennen ist. Es ist selbstverständlich, daß der evangelische Pastor sich von niemandem an Patriotismus und nationaler Gesinnung übertreffen, ebenso daß er sich von niemandem das Recht seiner politischen Überzeugung verkümmern lassen darf. Daß er aber in den Augen seiner Gemeindeglieder mit seiner religiös-kirchlichen Stellung zugleich seinen politischen Stempel erhält, ist ein unwürdiger Zustand, an dessen Beseitigung alle vernünftigen Leute arbeiten sollten. Die Liberalen aber haben nicht das Recht, den Konservativen in diesem Punkte Vorwürfe zu machen.

Die beiden Seiten des Kirchenproblems.

Damit haben wir die beiden Erscheinungen, welche das moderne Kirchenproblem geschaffen haben, die „allgemeine Unkirchlichkeit“ und die „innerkirchliche Krisis“. Beide haben gegenwärtig ihren Höhepunkt erreicht und dadurch das Problem aufs höchste verschärft. Betrachten wir sie in ihrem gegenwärtigen Verhältnis, so kann ihr Zusammenhang nicht verborgen bleiben. In denselben Faktoren des neuzeitlichen Geisteslebens, welche im allgemeinen entkirchlichend gewirkt haben, ist auch der Grund für die allmähliche Auflösung der kirchlichen Bekenntniseinheit zu suchen. Umgekehrt wird durch die innerkirchliche Krisis die Unkirchlichkeit beständig vergrößert. In dieser Wechselwirkung gewinnt die verhängnisvolle Situation der evangelischen Kirche ihren deutlichen Ausdruck.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 992. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/555&oldid=- (Version vom 20.8.2021)