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Liberale Kampfesorganisationen.

Auf der anderen Seite fühlte sich die stark angewachsene Schar der Freunde der 1886 noch im Sinne des Rischlianismus gegründeten „Christlichen Welt“ durch die sich seit dem Apostolikumstreit verschärfende Lage veranlaßt sich (1903) als „Freunde der Christlichen Welt“ zu organisieren und in ihr Programm einige wichtige, wenn auch gemäßigte liberale kirchenpolitische Forderungen aufzunehmen. Auch der Protestantenverein ist wieder mobil geworden und für sein altes Programm in den Kampf eingetreten. Vor allem aber haben sich die radikaleren Elemente der gesamten Linken in den 1905 unter Traubs Führung zunächst für das Rheinland und Westfalen gegründeten Vereinen der „Freunde evangelischer Freiheit“ gesammelt. Diese haben sich inzwischen über fast alle evangelischen Landeskirchen verbreitet und überall eine außerordentliche Aktivität entfaltet.

Radikalismus.

Überhaupt gilt es für rechts und links, daß die neuesten Parteien und Organisationen wesentlich schärfer und radikaler vorgehen, als die älteren. In Bremen hat sich unter Kalthoffs Führung ein Radikalismus entwickelt, der den Übergang zum Monismus (Steudel) bereits vollzogen hat, während Männer wie Jatho und einige weniger bedeutende, aber ebenso unruhige Geister sich augenscheinlich auf der Grenzlinie bewegen. So spitzen sich die Gegensätze immer schärfer und bewußter zu. Sie sind an einem Punkte angekommen, wo nicht nur jede Verständigung, sondern jede sachliche Auseinandersetzung unmöglich geworden zu sein scheint.

Notwendigkeit der Mäßigung.

Diejenigen, die sich den Blick für die Sache und die sachliche Berechtigung dessen, was auf beiden Seiten vertreten wird, nicht trüben lassen wollen und zur Mäßigung mahnen, haben einen schweren Stand und eine undankbare Aufgabe. Indem sie vor Überspannung der Gegensätze warnen, das Gemeinsame des Besitzes und der Aufgaben gegenüber den trennenden Parteien betonen, und wenigstens für die kirchliche Praxis nach einem Einigungsboden suchen, erscheinen den extremen Geistern rechts und links, welche überall, vor allem in der kirchlichen Presse das Wort führen, als die „Halben“, welchen einen „faulen Frieden“ begünstigen, oder gar als die „Unwahrhaftigen“, welche die Wahrheit verleugnen und die „landeskirchliche Form“ über die „Wahrheit“ stellen. Und doch wird alles davon abhängen, ob diese Vertreter der Mäßigung mit ihrer Stimme durchdringen. Das Schicksal der Evangelischen Kirche hängt geradezu davon ab, ob der Geist der Mäßigung, der über den Parteien steht, in den kirchlichen Kämpfen die Oberhand gewinnt. Denn die extremen Forderungen sowohl der Rechten als der Linken werden in ihrer Undurchführbarkeit immer erkennbarer. Die Wiederherstellung der historischen Bekenntniskirchen mit ihrer strengen Auffassung und Handhabung der Bekenntnisverpflichtung und Lehrzucht ist unter den gegenwärtigen Verhältnissen ebenso unmöglich geworden, wie die Aufhebung jeder Bekenntnisbindung und die Proklamierung unbegrenzter Lehrfreiheit. Weder in einer gänzlich staatsfreien Kirche, wie sie ja von

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 990. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/553&oldid=- (Version vom 20.8.2021)