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zu erfüllen, ihren Pastoren blindlings. Wieder andere sind von dem „Laienfanatismus“ ergriffen, der die rabies theologorum noch um ein erhebliches übertrifft. Auf der andern Seite werden im Namen der „Gewissensfreiheit“ und „Toleranz“ die zahlreichen Glieder einer sonst unsichtbaren Kirche um die Fahne des Fortschritts gesammelt, um einen merkwürdigen Typus von kirchlichem Interesse außerhalb der Kirche zu kultivieren. Alles ungesunde und unerfreuliche Erscheinungen, kirchliche Entartungsphänomene, die der Parteikampf erzeugt. Hier wird alles andere herrschen, als das, was die höchste Aufgabe, die große Errungenschaft der Kultur sein sollte, die Sachlichkeit.

Verlust der Sachlichkeit.

Der Verlust der Sachlichkeit im tiefsten Sinne des Wortes, der religiösen und kirchlichen Sachlichkeit, das ist der schwerste Schaden, den uns die kirchlichen Kämpfe eingetragen haben.

Denn die Sachlichkeit – und mit ihr die innerste Lebenskraft eines Phänomens – geht dort verloren, wo man zwar unaufhörlich von „der Sache“ redet, um die es einem lediglich zu tun sei; aber nichtsdestoweniger stets und geflissentlich nur eine Seite der Sache im Auge hat, alle anderen grundsätzlich ignoriert, und dadurch das Phänomen, dem man dienen will, völlig zerstört. So aber geht es dort, wo man in Angelegenheiten des „Christentums“ und der „Kirche“ alles auf bestimmte Entfaltungsseiten des Gesamtlebens dieser Größen, aber nicht auf das Ganze des Gesamtlebens selbst zuspitzt. Leute, welche einzelne, an sich vielleicht außerordentlich wichtige, Lebensbedingungen oder Lebensfunktionen der Kirche, etwa das Bekenntnis oder andererseits die Glaubensfreiheit, als Lebensbasis des Ganzen ansehen und in Gegensatz gegen einander setzen, verlieren die Totalität der Lebenserscheinung aus dem Auge und bringen alles aus dem Gleichgewicht.

Überwiegen der kirchenpolitischen Tendenz

Die in den letzten Jahren immer stärker hervorgetretene kirchenpolitische Aktivität, welche durch die Auflösung der Erkenntniseinheit in der Kirche hervorgerufen ist, gehört zu den ungesundesten Erscheinungen unseres gegenwärtigen kirchlichen Lebens. Es ist garnicht zu sagen, welch eine Summe von Kraft dadurch der dringenden Arbeit und den immer sich mehrenden kirchlichen Aufgaben schon entzogen worden ist und noch täglich entzogen wird. Denn der Prozeß der kirchenpolitischen Parteibildung ist noch keineswegs zur Ruhe gekommen.

Positive Kampfesorganisationen.

Neuerdings haben sich in Bayern die schon immer vorhandenen Richtungen organisiert; im „deutsch-evangelischen Volksbunde“ ist eine neue Kampforganisation auf den Plan getreten, welche dem kirchlichen Liberalismus Kampf auf Leben und Tod angesagt hat. Kurz vorher erst fällt die Gründung und erste Tagung des „Allgemeinen positiven Verbandes“, und wenige Jahre zurück liegt die der „kirchlich-positiven Vereinigungen“ – alles neueste Kampfesorganisationen der „Positiven“ zum Schutz des Bekenntnisses und zum Kampf gegen den Liberalismus.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 989. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/552&oldid=- (Version vom 20.8.2021)