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Ist überhaupt noch etwas übrig geblieben von den reformatorischen Bekenntnissen? Gibt es überhaupt noch so etwas wie eine christliche Weltanschauung? Oder ist die christliche Religion bloß noch Gefühls- und Stimmungsreligion, Gesinnung, Mystik? Welch ein Schwanken zwischen Mystizismus und Moralismus! Man fragt sich weiter: Kann die Volkskirche überhaupt auf die Dauer auf diesem schwankenden Boden bestehen? Ohne jeden gemeinsamen Wahrheitsbesitz, ja bei diametral entgegengesetzten Standpunkten? Man sieht ein Reich, das mit sich selbst uneins ist, zerfallen. Manche sprechen schon nicht mehr von verschiedenen theologischen Richtungen oder kirchlichen Parteien, sondern von verschiedenen Religionen innerhalb der Kirche. Auf der äußersten Rechten berührt man sich mit dem römischen Katholizismus, auf der äußersten Linken mit dem Monismus. Ist da noch irgendwelche Gemeinschaft möglich? Kann man überhaupt Anschauungen, wie sie ein Jatho, ein Traub, ein Kalthoff u. a. vertreten, überhaupt noch „Christentum“ nennen? Nicht selten hörte man von dem „Atheismus“ in der Kirche reden. Dabei besteht doch das Bekenntnis zu Recht, und die Bekenntnisverpflichtung ist in Übung. Man ruft aus: welch einer Unwahrhaftigkeit macht sich die Kirche schuldig, die ja und nein aus einem Munde anerkennt, legitimiert. Wo bleibt da die gläubige Gemeinde, auf deren Seite doch das sachliche und formale Recht ist. Sie wird mißhandelt. Ihr wird ihr Recht vorenthalten. Sie kann das unverfälschte Evangelium verlangen. – Darüber kann jedenfalls kein Zweifel bestehen, daß von unbegrenzter Lehrfreiheit in der Kirche nicht die Rede sein kann, und daß ein bestimmtes Maß grundsätzlichen gemeinsamen Wahrheitsbesitzes unentbehrliche Voraussetzung der kirchlichen Gemeinschaft ist. Die Frage, ob nicht jetzt schon, und zwar womöglich definitiv, die äußerste Grenze dessen, was an Dissensus erträglich ist, überschritten, und damit die kirchliche Einheit innerlich schon aufgelöst ist, bewegt nicht bloß die Freunde der Bekenntniskirche im überlieferten Sinne.

Kirchliche Parteikämpfe.

Andererseits lähmen die den ganzen Kirchenkörper durchwühlenden und erschütternden Parteikämpfe, welche die unvermeidlichen Folgeerscheinungen der Krisis bilden, das Leben und die Aktionsfähigkeit der Kirche auf allen Gebieten. Es gibt kaum eine in Verbindung mit der Kirche stehende Erscheinung, welche demoralisierender und diskreditierender in den Gemeinden und überhaupt in der öffentlichen Meinung gewirkt hätte und noch wirkte, als der kirchenpolitische Parteikampf, der seit geraumer Zeit durch das ganze Gebiet der Evangelischen Kirche tobt und alle Leidenschaften rege macht. Welchen Eindruck muß auf die Dauer eine Kampfesweise auf unsere Gemeinde ausüben, bei der unaufhörlich im Namen des Evangeliums, der Wahrheit, des Glaubens, ja Gottes die einfachsten Gebote des Anstandes, der guten Sitte und der christlichen Ethik verletzt werden, geschweige die Liebe, die ein Paulus über Glaube und Hoffnung stellt. Zahllose Gemeindeglieder welchen die Dinge, um welche gestritten wird, ferne liegen, aber die häßlichen Begleiterscheinungen des Streites in die Augen fallen, wenden sich, angewidert, von diesem „Pastorengezänk“ und oft genug auch von der Kirche selbst ab. Andere, die in strenggläubigen Anschauungen aufgewachsen sind, folgen in dem Glauben, ihre heiligste Pflicht

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 988. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/551&oldid=- (Version vom 20.8.2021)