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ist unwiderbringlich dahin. Die exklusiv-supranaturalistische Betrachtung der biblischen Geschichte ist unhaltbar geworden. Das Dogma der alten Kirche ist keineswegs rein biblisch-religiösen Ursprungs. Die religiösen Grundprinzipien der Reformation sind nicht zur Durchführung gekommen, weder in den evangelischen Kirchenbildungen, noch in den Bekenntnisschriften, noch in der Theologie des 17. Jahrhunderts. Diese Erkenntnisse werden immer mehr Gemeingut der Theologen, während die offizielle Kirche sich noch immer gegen ihre öffentliche Anerkennung sträubt; sie dringen immer mehr durch die zahlreichen Röhren des modernen Popularisierungsapparates in die Kreise der Gebildeten ein, werden hier allerdings vielfach hinsichtlich ihrer rein religiösen Tragweite mißverstanden. Ja auch die sogenannte „positive Theologie“, sofern sie sich entschlossen von den alten theologischen Methoden der Orthodoxie abgewandt und ihre veraltete Apologetik aufgegeben hat, befindet sich in weitgehendem Maße im Einklang mit diesen Anschauungen, während das Vertrauen zur Orthodoxie weithin in der öffentlichen Meinung immer mehr erschüttert wird, je mehr und deutlicher zutage tritt, was für Irrtümer sie im Namen des Glaubens konserviert hat und noch immer weiter konservieren möchte. Durch diesen immer zunehmenden kritischen Prozeß, der sich an der historischen Theologie vollzogen hat, sind alle geschichtlichen Unterlagen der Kirchenlehre, wenigstens in ihrer alten Fassung, problematisch geworden und damit das Dogma erschüttert. Die „Heilstatsachen“ sind zum Gegenstand der allgemeinen Skepsis geworden, wenigstens in ihrem traditionellen Verständnis. Dazu ist die philosophische, psychologisch-erkenntniskritische und religiöse Kritik der Dogmatik gekommen, welche weithin eine völlige Umwertung der religiösen Werte der Vergangenheit vollzogen hat.

Grenze zwischen Kirchlicher und Nichtkirchlicher Theologie.

Die Folgerungen, welche aus der kritischen Bearbeitung der Dogmas gezogen wurden, sind sehr verschieden. Die Grade, in denen die moderne Theologie in ihren verschiedenen Typen von der Kirchenlehre abweicht, sind sehr mannigfaltig, je nach der Tragweite, welche man hinsichtlich des religiösen Gehaltes des Christentums den kritischen Ergebnissen zuschreibt. Die Grenze zwischen den noch „Kirchlichen“ und den nicht mehr „Kirchlichen“ ist sehr schwer zu ziehen. Tatsache ist, das die alte Erkenntnis- und Bekenntniseinheit in der evangelischen Kirche grundsätzlich und faktisch aufgelöst ist, und daß die Kirche mit der Unwiderruflichkeit dieses Zustandes zu rechnen hat. Es ist keine Frage, daß dadurch eine allgemeine Lehr- und Wahrheitsunsicherheit herbeigeführt ist, der sich überall verwirrend und trennend geltend macht.

Folgen der innerkirchlichen Krisis. Lehrunsicherheit.

Die Folgen dieser innerkirchlichen Krisis sind allerdings für das Leben und den Bestand der Kirche geradezu verhängnisvoll. Auf die immer mehr unter Theologen und Laien um sich greifende Wahrheitsunsicherheit religiöser Skepsis ist schon hingewiesen. Manche fragen schon:

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 987. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/550&oldid=- (Version vom 20.8.2021)