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Fakultäten hat jener Prozeß begonnen, der jenes Ergebnis hatte. Die theologische Entwicklung aber steht wiederum in Verbindung mit dem neuzeitlichen Fortschritt des allgemeinen kulturellen und geistigen Lebens, das bereits charakterisiert ist. Dieselben Kräfte, welche die allgemeine Unkirchlichkeit erzeugt haben, waren es, die in die theologische Arbeit hineinwirkten und somit nicht nur von außen, sondern auch von innen her den Bestand der Kirche im überlieferten Sinne bedrohten.

Im 17. Jahrhundert sperrte die kirchliche Theologie sich gegen das neu aufstrebende Geistesleben ab. Dadurch gelang es ihr, die Bekenntnis- und Lehreinheit, auf der die Kirchen beruhten, unangefochten über hundert Jahre zu erhalten.

Als sich dann im 18. Jahrhundert die Absperrung nicht mehr durchführen ließ, auf der die geistige Einheit der altprotestantischen Kirche beruhte, erlag diese sogenannte orthodoxe Theologie völlig dem Ansturm des mächtig erstarkten neuen Geisteslebens, mit dem sie sich rechtzeitig auseinanderzusetzen versäumt hatte. Bereits im 18. Jahrhundert erlebte die evangelische Kirche eine weitgehende Auflösung ihrer Bekenntniseinheit.

Kirchliche Restauration im 19. Jahrhundert.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfuhren die durch die Aufklärung so gut wie neutralisierten Bekenntnisse, bis zu einem hohen Grade sogar die altorthodoxe Theologie, eine Restauration. Sie stützte sich auf sehr verschiedenartige und verschiedenwertige Faktoren, auf altgläubige Elemente, die auch in der Aufklärung nicht ausgestorben waren, auf die Erweckungsbewegung der Befreiungskriege, auf alte und neue pietistische Kreise, aber auch auf ihr günstigen äußeren Machtverhältnisse und reaktionäre politische Instanzen. Die Bekenntniskirchen wurden überall durch bedeutende Kirchenmänner meist unter staatlicher Mithilfe wieder hergestellt, der Bekenntnisgedanke stramm durchgeführt. In dieser Restauration steckte zweifellos eine religiöse Kraft, die durch das ganze Jahrhundert auf allen Gebieten des kirchlichen Lebens segensreich fortgewirkt hat und vor allem auch in der äußeren und inneren Mission wirksam geworden ist. Sie erwies sich als der Aufklärung und dem Rationalismus religiös und kirchlich überlegen. Von ihr zehrt unser Kirchentum noch heute. Es war trotz aller Engigkeit und Unfreiheit etwas Charaktervolles und Produktives in dieser Neu-Orthodoxie. Kirchenmänner, wie Hengstenberg, Stahl, Harleß, Kliefoth, Vilmar u.., Prediger wie Ludwig Harms, Löhe, Petri, Münkel und Ahlfeld, Theologen wie Kahnis, Luthardt, Delitzsch, Zezschwitz u. a. gehörten zu den bedeutendsten Erscheinungen der neuesten Kirchengeschichte und gewannen einen außerordentlichen Einfluß auf Landesherren, Staatsmänner, Ministerien, Adel und die gläubigen Kreise ihrer Zeit. Sie erzeugten eine kräftige Kirchlichkeit, welche gewiß einer tieferen religiösen Begründung nicht entbehrt.

Ignorierung des neuen Geisteslebens durch die Neu-Orthodoxie.

Und doch trug diese neuorthodoxe Kirchlichkeit zu viel des Rückständigen in sich, um sich im modernen Leben durchzusetzen oder überhaupt nur in umfassender Weise alle religiös Lebendigen an sich zu ziehen.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 984. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/547&oldid=- (Version vom 20.8.2021)