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überall gleichartige Erscheinung ist, sondern die verschiedensten Grundzüge zeigt. Beides hängt indessen eng zusammen.

Entfremdung vom Kultus. Subjektivismus.

Will man das Phänomen der Unkirchlichkeit unserer Zeit verstehen, so muß man ihre verschiedenen Typen unterscheiden. Für eine ganze Kategorie sagen wir „moderner“ Menschen besteht sie wesentlich in einer mehr oder weniger bewußten Entfremdung vom Kultus. Sie sind dort zu suchen, wo man, ohne der Religion und dem Christentum verständnislos oder gar gegnerisch gegenüberzustehen, dennoch sich von den gottesdienstlichen und überhaupt kirchlichen Formen unbefriedigt oder abgestoßen fühlt. Hier hat man mit Bewußtsein die Lebenswendung mitgemacht, die sich immer deutlicher im 19. Jahrhundert angebahnt hat, die Wendung von dem Objektivismus, Autoritätsgefühl und Jenseitsbewußtsein der alten Zeit zu dem modernen Subjektivismus, Individualismus und Diesseitigkeitsgedanken. Hier ist ein neuer Lebenstypus entstanden und mit ihm eine neue individualistisch und spiritualistisch geartete Frömmigkeit, welche sich von der hergebrachten Predigtweise formell und inhaltlich unbefriedigt fühlt und die kultischen Formen der kirchlichen Religiösität als viel zu äußerlich, realistisch, formalistisch und unmodern empfindet. Auch spricht hier häufig ein sehr empfindliches ästhetisches Gefühlsleben mit, eine überzarte Scheu vor der Profanierung innerer Heiligtümer und ein Selbständigkeitsbewußtsein, das jede seelsorgerliche Bevormundung vor allem von seiten eines „amtlichen“ Vertreters der Religion ablehnt.

Entwöhnung von Tradition und Sitte.

Ganz anders geartet ist die Unkirchlichkeit jener großen Schicht äußerlich zur Kirche Gehöriger, deren Unkirchlichkeit ebenso auf Entwöhnung beruht, wie einst die Kirchlichkeit ihrer Vorfahren auf Gewohnheit. Diese Erscheinung hängt in erster Linie mit der enormen Fluktuation der Bevölkerung zusammen, die seit dem Freizügigkeitsgesetz die Seßhaftigkeit und Bodenständigkeit unseres Volkes immer mehr aufhebt, zur Entvölkerung des platten Landes, zur Anhäufung gewaltiger Massen in den Großstädten und damit zur Aufhebung aller volkstümlichen Traditionen und Sitten führt. Die Abwanderung in die Großstädte bedeutet für Zahllose einen Übergang von der organischen zur atomistischen Lebensform, dessen nächste und charakteristischeste Wirkung die völlige Lösung des heimatlichen Verhältnisses zur Kirche zu sein pflegt.

Grund in der Kulturveräußerlichung. Praktischer Materialismus.

Der tiefere Grund dieser Massenentkirchlichung liegt freilich in der äußerlichen Richtung, die unser Kulturleben im 19. Jahrhundert eingeschlagen hat. Die tiefreligiöse und echt idealistische Grundtendenz der nationalen Erhebung von 1813 ist im Laufe des Jahrhunderts immer stärker durch die äußere Kulturentwickelung zurückgedrängt worden. Das ist verständlich, denn es galt in der Tat zuerst den deutschen Volkskörper zu konsolidieren. Die Faktoren, die das Leben des 19. Jahrhunderts beherrschten, waren in erster Linie der nationalpolitische,

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 977. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/540&oldid=- (Version vom 20.8.2021)