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Gemeinschaft durch gerichtlich abzugebende Austrittserklärung gestattet und deren Rechtswirkungen feststellt. „Die Freiheit des religiösen Bekenntnisses, die Vereinigung zu Religionsgesellschaften und der gemeinsamen häuslichen und öffentlichen Religionsübung wird gewährleistet. Der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte ist unabhängig von dem religiösen Bekenntnisse“ (Art. 12, Satz 1 u. 2). Dieser letztere Grundsatz hat weiterhin seine Anerkennung für das ganze Reich gefunden in dem Gesetze v. 3. Juli 1869.

Die Verfassungsurkunde spricht aber ferner auch mit Schärfe den Grundsatz aus, daß die Voraussetzung jeder Gewissensfreiheit in Preußen der Gehorsam gegen die Staatsgesetze ist, gleichfalls in Übereinstimmung mit dem Allgemeinen Landrecht. „Den bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten darf durch die Ausübung der Religionsfreiheit kein Abbruch geschehen“ (Art. 12 S. 3).

Der ursprüngliche Text der Verfassungsurkunde hatte ferner noch, dem Gedanken der Gewissensfreiheit und den Bewegungen der Zeit folgend, den Grundsatz von der „Selbständigkeit“ der evangelischen und der katholischen Kirche ausgesprochen. Als im Jahre 1873 die Notwendigkeit einer systematischen Neugestaltung des staatlichen Aufsichtsrechtes zu einer umfassenden Gesetzgebung führte, der von seiten der katholischen Kirche unter Berufung auf die „Selbständigkeit“ der Kirche heftiger Widerstand entgegengesetzt wurde, wurden die Verfassungsartikel über die Selbständigkeit der Kirche (15, 16, 18) aufgehoben, um in Zukunft eine der Souveränität des Staates widersprechende Auslegung dieser Vorschriften abzuschneiden. Inzwischen ist der größte Teil jener Gesetzgebung aus der Zeit des sog. „Kulturkampfes“ wieder beseitigt, die Verfassungsartikel über die „Selbständigkeit“ der Kirche aber nicht wiederhergestellt worden. In Wirklichkeit aber besteht diese Selbständigkeit der Kirche unter richtiger Auslegung des Begriffes auch heute zu vollem Rechte: die katholische Kirche erfreut sich einer überaus weitgehenden Freiheit in Preußen, und das Wort Pius’ VI.: „wir bekennen, daß wir dem Heldenkönige für seine Billigkeit, welche nicht der letzte unter seinen Ruhmestiteln ist, zum größten und unsterblichen Danke verpflichtet sind“, gilt auch für die Regierung Wilhelm II. Für die evangelische Kirche aber hat der Gedanke der Selbständigkeit in der Durchführung der Synodalverfassung eine großartige neue Gestaltung gefunden.

So ist das Verhältnis von Staat und Kirche in Preußen, das heute besteht, durchaus ein Ergebnis der Geschichte. Nach den schweren Kämpfen zwischen Staat und Kirche in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts ist im Zeitalter Wilhelm II. eine Periode der Ruhe eingetreten. Aber unter dieser äußeren Ruhe bestehen, besonders in der evangelischen Kirche, tiefe Gegensätze innerkirchlicher Art. Im Rahmen des Landeskirchentums sind diese Gegensätze äußerlich verbunden. Ob dies auf die Dauer möglich bleiben oder ob, um Religion und Gewissensfreiheit zu erhalten, auch für Preußen die Trennung von Staat und Kirche zur harten Notwendigkeit werden wird, steht in Gottes Hand.

„Aber die Seele kann und will Gott niemand lassen regieren, denn sich selbst allein. – – Denn es ist ein frei Werk um den Glauben, dazu man niemand kann zwingen.“

(Luther).      
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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 975. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/538&oldid=- (Version vom 31.7.2018)