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durch apostolische Vikare hat er kein Hindernis bereitet, und allbekannt ist seine Ansicht über die damals die Welt bewegende Aufhebung des Jesuiten-Ordens. Aber, wie bereits bemerkt, auch andere Religionsmeinungen und Religionsgesellschaften genossen volle Freiheit, immer nur unter der Voraussetzung des Gehorsams gegen die Staatsgesetze.

In den Gesetzesvorschriften des Allgemeinen Landrechtes fanden dann diese Grundsätze ihre monumentale rechtliche Ausprägung in einer Größe des Gedankens, die nicht übertroffen werden kann. „Die Begriffe der Einwohner des Staats von Gott und göttlichen Dingen, der Glaube und der innere Gottesdienst können kein Gegenstand von Zwangsgesetzen sein.“ „Jedem Einwohner im Staat muß eine vollkommene Glaubens- und Gewissensfreiheit gestattet werden.“ „Niemand soll wegen seiner Religionsmeinungen beunruhigt, zur Rechenschaft gezogen, verspottet oder gar verfolgt werden.“ „Mehrere Einwohner des Staates können sich zu Religionsübungen verbinden.“

In keinem Lande der Welt noch galten diese großen Grundsätze zu der Zeit, als Preußens großer König sie in seinem Staate zur Geltung brachte. Frankreich stand bis zur Revolution unter dem Grundsatz der Aufhebung des Edikts von Nantes (1685), und was Friedrich der Große seinen Landen im Frieden gab, erhielt Frankreich erst viel später unter Strömen vergossenen Blutes. England hat erst 1822 sich von den strengen Grundsätzen des evangelischen Konfessionsstaates freigemacht, und Österreich gab erst unter Josef II. den Protestanten eine ganz kümmerliche Duldung.

VI. Durch den Wiener Kongreß erfuhren die Gebietsverhältnisse des preußischen Staates eine vollkommene Neugestaltung, die dann durch die Gebietserwerbungen des Jahres 1866 ihren heutigen Abschluß gefunden hat. Die Verhältnisse der katholischen Kirche in Rheinland und Westfalen wurden neu geordnet durch die Zirkumskriptionsbulle De salute animarum (1821), die als Staatsgesetz verkündigt wurde; zu den vier östlichen Diözesen Breslau, Posen, Kulm, Ermland traten die vier westlichen Köln, Trier, Münster, Paderborn. Die Neuerwerbungen von 1866 fügten dazu noch die vier weiteren Diözesen Osnabrück, Hildesheim, Fulda, Limburg; für die beiden ersteren – ehemals Königreich Hannover – gilt auch nach 1866 die Zirkumskriptionsbulle Impensa Romanorum Pontificum, für die beiden letzteren – ehemals Teile der sog. oberrheinischen Kirchenprovinz – gelten die Bullen Provida sollersque und Ad dominici gregis custodiam auch unter preußischer Herrschaft fort.

Auch der evangelischen Kirche der 1815 und 1866 neu erworbenen Länder verblieb ihre Selbständigkeit, doch wurden Rheinland und Westfalen der Behörde des obersten Kirchenregiments, dem evangelischen Oberkirchenrat, unterstellt, während für die 1866 erworbenen Gebiete – Provinzen Hannover, Hessen-Nassau und Schleswig-Holstein – nicht der Oberkirchenrat, sondern der Minister der geistlichen Angelegenheiten die Aufgaben des landesherrlichen Summepiskopats verwaltet.

Alle diese territorialen Bestandteile der evangelischen und katholischen Kirche in Preußen stehen zum Staate im Verhältnis von sog. „Landeskirchen“. Der heutige Begriff Landeskirche ist eine Abschwächung des alten Staatskirchentums, d. i. der ausschließlichen Verbindung des Staates mit einer Kirche (siehe oben I.); er umfaßt

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 973. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/536&oldid=- (Version vom 20.8.2021)