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Noch stehen wir mitten in dieser gewaltigen Umwälzung, aber man kann vielleicht den Zeitpunkt, da Wilhelm II. Deutscher Kaiser wurde, auch als den Zeitpunkt bezeichnen, zu dem die neue Zeit des Weltverkehrs anbricht.

Freilich ernste Sorgen sollte die neue Entwicklung dem jungen Kaiser schon in den ersten Jahren seiner Regierung bereiten. Die vaterländische Landwirtschaft, bisher das Fundament unseres Volkslebens, wurde in ihren Grundfesten erschüttert. Das unaufhaltsame Eindringen fremden Getreides auf den heimischen Markt bewirkte einen Preissturz dieses wichtigsten Bedarfsgegenstandes, wie ihn die Geschichte der Kulturländer seit sechs Jahrtausenden nicht zu verzeichnen hat. Der Weizen, der in den Jahren 1871 bis 1876 in Deutschland durchschnittlich 235 Mark die Tonne gekostet hatte, war 25 Jahre später auf 161 Mark gesunken.

Aber wie Kronos seine eigenen Kinder verschlingt, so sollte der Weltverkehr selbst bei der Beseitigung der Schäden, die er angerichtet hatte, mitwirken.

Kaiser Wilhelm II. hat mit klarem Blick die Bedeutung des Weltverkehrs in unserem heutigen Wirtschaftsleben erkannt. Sein geflügeltes Wort von der Welt, die unter dem Zeichen des Verkehrs steht, legt ebenso wie die ganze Richtung seiner Politik Zeugnis hiervon ab. In einer über 40 Jahre dauernden Friedensperiode konnten sich unter dem segensreichen Einfluß des Verkehrs, der Deutschland immer enger mit der ganzen Erde verknüpfte, die in unserem Vaterlande schlummernden wirtschaftlichen Kräfte mächtig entfalten und eine Zeit beispiellosen Aufschwunges von Handel und Industrie heraufführen. Und diese Entwicklung ermöglichte es, der notleidenden Landwirtschaft mit einem wirksamen Zollschutz zu Hilfe zu kommen. Die reich gewordene Industrie konnte die höheren Lebensmittelpreise bezahlen, die Landwirtschaft aufs neue erstarken. Und sie vergalt der Industrie in reichem Maße, was diese ihr gegeben hatte. Sie wurde ihr wichtigster Abnehmer. Und so sehen wir heute am Ende einer 25 jährigen Regierungszeit Kaiser Wilhelms II. eine blühende Landwirtschaft neben einem kräftig entwickelten Handels- und Gewerbestand. Unser Vaterland erfreut sich jenes glücklichen Wirtschaftszustandes, in welchem die günstige Entwicklung jedes einzelnen Erwerbszweiges die Entwicklung des anderen mächtig fördert.

Und so kräftig war der Aufschwung, daß heute die deutsche Nation sich für ihren Geburtenüberschuß den nötigen Ellbogenraum im eigenen Lande geschaffen hat, daß die deutsche Auswanderung, die dem Vaterlande bis gegen das Ende der 1880er Jahre alljährlich Hunderttausende seiner besten Söhne entführt hatte, nahezu zum Stillstand gekommen ist.–

Die Eisenbahnen.

I. Die Eisenbahnpolitik.

Die Verstaatlichungspolitik.

Die großen Verstaatlichungsaktionen in den deutschen Ländern, vornehmlich in Preußen, waren schon vor 1888 im wesentlichen abgeschlossen. Es gab in Deutschland sieben größere in sich geschlossene und selbständig nebeneinander bestehende Staatsbahnsysteme: die Reichseisenbahnen,

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 876. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/439&oldid=- (Version vom 20.8.2021)