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dagegen der relativen Sterblichkeit von nur 21,8 auf 18,2, bei den Geburten also binnen einer Dekade ein Minus von 7,4, bei den Sterbefällen ein solches von nur 3,8 auf 1000. Der Geburtenrückgang gewinnt also, nachdem es früher umgekehrt war, jetzt über den Rückgang der Sterblichkeit die Oberhand, d. h. die Geburten erfahren eine viel weitergehende Einschränkung, als durch den Rückgang der Sterblichkeit geboten wäre. Das Sinken der Sterblichkeit kann also schon darnach den Geburtenrückgang nur zum Teile erklären. Dazu kommt aber, daß von der verringerten Sterblichkeit der Erwachsenen ceteris paribus die gegenteilige Wirkung ausgehen muß, und daß auch die verringerte Sterblichkeit der Kinder nicht unter allen Umständen der Geburtenziffer gefährlich werden muß.

Eine andere, von Adolf Wagner und Prinzing versuchte Erklärung geht dahin, daß wir augenblicklich hinsichtlich der Geburten uns in einem Wellentale befinden, das gemäß des Rhythmus geschichtlichen Geschehens über kurz oder lang von einem Wellenberg abgelöst werden dürfte. Für die Prüfung dieser Annahme bedarf es längerer statistischer Reihen. Wir haben regelmäßige statistische Aufnahmen für ganze Länder seit etwa 100 Jahren. In Preußen reichen sie bis 1816 zurück. Aber niemals in dem Auf und Ab der Geburten in dieser Zeit haben wir einen Geburtenrückgang von gleicher Beständigkeit erlebt wie den der letzten zwei Jahrzehnte. Wenn wir, um Ausnahmejahre auszugleichen, immer zwei Jahr zusammenfassen, haben wir in Preußen (und übrigens auch in Deutschland) seit 1890 einen ununterbrochenen Rückgang der Geburtenfrequenz. Niemals vorher hat man in der statistisch kontrollierten Zeit in Preußen Ähnliches erfahren. Wohl ist, wenn man die zwei Jahre 1819 und 1848 einander gegenüberstellt, die Geburtenziffer von 45,2 auf 35,8 pro tausend der Bevölkerung zurückgegangen. Von einer Stetigkeit des Rückgangs in dieser Zeit kann aber keine Rede sein. Vielmehr oszilliert, wenn wir von den Jahren der volkwirtschaftlichen Erholung Preußens in den Jahren 1816/26 absehen, wo die Geburtenziffer infolgedessen ausnahmsweise hoch war (zwischen 46,2 und 42,3), die Geburtenziffer immer um 40 auf 1000 der Bevölkerung und fällt nur ein oder zwei Jahre lang unter dieses Maß oder erhebt sich darüber. Diese Konstanz kommt der Geburtenziffer die ganze Zeit bis 1880 zu. Erst im vorletzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts, von 1880 bis 1890, gerät sie erstmalig ins Schwanken. 1890 ist dann die abwärtsgehende Bewegung besiegelt und kennt keine Unterbrechung mehr.

Auf die statistische Erfahrung früherer – statistisch kontrollierbarer – Zeiten kann man sich also für die Erklärung der Erfahrung unserer Frage nicht berufen.

Wieder eine andere Erklärung benutzt die „schlechten Zeiten“, die als solche der Masse des Volkes nicht gestatten, so viel Kinder wie früher in die Welt zu setzen. Diese Erklärung wird von oppositionellen Politikern und von Theoretikern, die politisch jenen nahestehen, begünstigt. So hat ihr beispielsweise jüngst der freisinnige Abgeordnete Georg Gothein, weiter zurück der Sozialtheoretiker Tönnies Worte geliehen.

Gothein macht für den Rückgang den „Bülow-Tarif“ und die Verteuerung verantwortlich, welche die Lebenshaltung des deutschen Volkes seit seiner Annahme erfahren

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 866. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/429&oldid=- (Version vom 9.3.2019)