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und sich der harten Grenzen, die dem stolzen Flug der Weltverbesserer gesetzt sind, bewußt zu werden. Statt phantastischer Zukunftspläne pflegen sie nüchterne Gegenwartsarbeit in kraftvollen Gewerkschaften und Genossenschaften. Ja selbst eine Volksversicherung wollen sie in großem Stile einrichten, um sich für Leben und Sterben im Gegenwartsstaat vorzusehen. So suchen sie sich in dem nationalen Vaterhause immer fester und wohnlicher einzurichten. Wer aber so eifrig mitbaut und bessert, denkt jedenfalls noch nicht an – Brandstiftung.

Die Sozialdemokratie ist immer mehr zu einer radikalen politischen Partei geworden, der alle politisch Unzufriedenen zuströmen. Die sozialen Forderungen und Klagen treten mehr und mehr gegenüber den politischen und „Kultur“-Fragen – d.h. den Bestrebungen einer antichristlichen Kultur – zurück. Alle ihre Reden und Flugblätter, ihre Anträge in den Parlamenten, die sie zur Verhandlung bringt, haben fast ausschließlich politischen Charakter. Allgemeines Wahlrecht in Preußen, Beseitigung der Zölle und indirekten Steuern, Bekämpfung von Militär und Marine, Bekämpfung der christlichen Schule usw. sind die Fragen, mit denen sie die Massen aufzupeitschen sucht. Von den sozialen Fragen sind es wesentlich nur noch die Wohnungsfrage, das Elend der Hausindustrie und bei absteigender Konjunktur die Frage der Arbeitslosigkeit, die berechtigten Stoff für die Aufhetzung bieten. Im übrigen handelt es sich um Aufgaben, die gewiß auch berechtigt und dringend sind, die sich aber meistens im Rahmen und auf Grund der bereits geschaffenen Gesetze im Wege der Verordnung und privater Fürsorge erfüllen lassen.

Man hat mit Recht auf die überraschende Tatsache hingewiesen, daß, während bei der letzten Reichstagswahl (1912) 4½ Millionen, also mehr als ein Drittel aller abgegebenen Stimmen auf die sozialdemokratische Partei gefallen sind, die Zahl der eingeschriebenen männlichen Mitglieder der Partei nur 841 735 beträgt. Dieser gewaltige Zahlenunterschied beweist gewiß, daß die Masse der sozialistischen Wähler nicht als zielbewußte überzeugte Sozialdemokraten anzusprechen sind. Die Zahl der eingeschriebenen Sozialdemokraten hätte an und für sich noch nichts Erschreckendes, wenn nicht die Masse der Mitläufer aus den bürgerlichen Kreisen ihren Einfluß verstärkte. Dessen ist sich die Sozialdemokratie auch sehr wohl bewußt. Deshalb die kluge Taktik der Mäßigung und Friedfertigkeit, wie sie z. B. der Jenaer Parteitag zur Schau trug, während der innere Charakter der Partei, ihr Haß gegen Religion und Monarchie, die skrupellose Verhetzung der arbeitenden Klassen gegen die bestehende Gesellschaftsordnung, die rücksichtslose Verfolgung ihrer letzten Ziele gegebenenfalls auch durch Massenstreik und Gewalttat unverändert geblieben sind und die Verschleierung dieser Ziele ihre Gefahr und Werbekraft nur erhöht. In der Stunde der Entscheidung sind es immer die wenigen Zielbewußten, welche die Masse mit sich fortreißen.

Christlich-nationale Arbeiterbewegung.

Als wichtigsten positiven Erfolg der Sozialreform dürfen wir die Bildung und Erstarkung einer christlich-nationalen Arbeiterbewegung betrachten, die sich in freier Selbstbestimmung, in klarer Erfassung der berechtigten Ziele einer modernen Arbeiterbewegung mit Stolz und Begeisterung zu den Grundsätzen des Christentums und der monarchischen Staatsanschauung bekennt und mit freudigem Vertrauen auf dem Boden der bestehenden Gesellschaftsordnung, im Rahmen und im Verein mit den bürgerlichen Parteien für die berechtigten Forderungen ihres Standes kämpft und arbeitet. Sie bildet die kraftvollste Gegenwehr gegen die Sozialdemokratie und den Kristallisationspunkt für alle die Elemente des Arbeiterstandes, die auf friedlichem Wege, im Rahmen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 861. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/424&oldid=- (Version vom 20.8.2021)