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Bei der weitgehenden Spezialisierung der Betriebseinrichtungen und Maschinen, dem raschen Wechsel und den gewaltigen Fortschritten der Technik und der Produktionsmethoden hat sich der Weg der Verordnungen und allgemeiner Vorschriften vielfach als zu schwerfällig und schablonenhaft erwiesen. Wirksamer und in zweckmäßigerer Anpassung kann die Gewerbeaufsicht eingreifen, und zwar in doppelter Weise. Einmal können die Gewerbeinspektionen in jedem Betriebe bestimmte Anordnungen oder Einrichtungen zum Schutz der Arbeiter in gesundheitlichem oder sittlichem Interesse vorschreiben (resp. bei der Oberpolizeibehörde beantragen); dann können sie insbesondere bei den Gewerbebetrieben, die einer besonderen Genehmigung bedürfen (§ 16), die Aufnahme entsprechender Anforderungen in die Genehmigungsbedingungen beantragen.

Die vereinigten systematischen Bemühungen der Konzessionsbehörden, der Gewerbeaufsichtsbeamten und der Unfallversicherungs-Berufsgenossenschaften und ihrer Beauftragten haben denn auch zu einer wesentlichen Verbesserung der Einrichtungen und der Betriebsverhältnisse der modernen Fabriken und Werkstätten geführt. Sie haben neuen Anschauungen Bahn gebrochen. Die Arbeitgeber haben sich immer mehr überzeugt, daß hohe, gut ventilierte, hygienisch wohl eingerichtete, möglichst staubfreie Arbeitsräume, sicher eingefriedigte, mit selbsttätig wirkenden Schutzeinrichtungen versehene Maschinen, sorgsame Ordnung und Reinlichkeit, gute Beleuchtung und Heizung usw. auch die Leistungsfähigkeit und -Freudigkeit der Arbeiter heben und damit auch der Unternehmung zugute kommen. So zeichnen sich die modernen Betriebe sehr vorteilhaft gegenüber solchen alter Zeit aus. Tüchtige und weitschauende Unternehmer ergänzen die behördlichen Anordnungen durch Einrichtungen und Anstalten freiwilliger Wohlfahrtspflege: Bade-, Wasch- und Umkleideeinrichtungen, Eß- und Aufenthaltsräume, Menagen und Wärmevorrichtungen, Verabreichung alkoholfreier Getränke (Kaffee usw.), Gartenanlagen Einrichtungen zur ersten Hilfeleistung, Kinderkrippen und Kinderbewahranstalten zur Entlastung der Mütter, Veranstaltungen zur Pflege der Erholung und Bildung: Spiel- und Turnplätze, Lesesäle, Bibliotheken usw.

Dieselben Behörden: der Bundesrat, die Landes-Zentralbehörden und die Polizeibehörden haben auch das Recht, für solche Gewerbe, in welchen durch übermäßige Dauer der täglichen Arbeitszeit die Gesundheit der Arbeiter gefährdet wird, Dauer, Beginn und Ende der zulässigen täglichen Arbeitszeit und der zu gewährenden Pausen zu regeln („sanitärer Maximalarbeitstag“).

Dem Bundesrat ist dieses Recht durch die Arbeiterschutz-Novelle von 1891 gewährt worden. Er hat auch für eine Reihe von Betrieben von diesem Recht Gebrauch gemacht, sei es in Form einer Minimalruhezeit (z. B. für Bäckereien, Getreidemühlen, Gast- und Schankwirtschaften), sei es durch Regelung der Arbeitszeit (z. B. für Steinbrüche und Steinhauereien, Herstellung von Akkumulatoren, Vulkanisierung von Gummiwaren). Durch die Novelle von 1911 ist dann dieses Recht auch den Landeszentral- und Polizeibehörden übertragen worden, soweit nicht der Bundesrat schon eine Regelung getroffen hat (§ 120 f). Damit soll den Mißbräuchen übermäßiger Arbeitszeiten, soweit sich solche in einzelnen Bezirken oder Betrieben herausstellen, gesteuert werden (z. B. in Fleischereien).

Ein allgemeiner gesetzlicher Maximalarbeitstag für erwachsene Männer, wie in der Schweiz und Österreich, besteht in Deutschland nicht. Die Beschränkung der Arbeitszeit für jugendliche und weibliche Arbeiter auf 10 Stunden ist jedoch indirekt auch den Männern zugute gekommen, indem gerade die Fabriken, welche jugendliche und weibliche Arbeiter in großer Zahl beschäftigen, wegen der verhältnismäßigen Leichtigkeit der Arbeiten die kürzeste Arbeitszeit aufweisen und eine Beschäftigung der Männer allein über die gesetzlichen 10 Stunden Zeit hinaus sich nicht lohnt. Dazu kommt, daß in den Industrien, die hauptsächlich Männer beschäftigen, durchschnittlich mit 10 Stunden die Grenze der Leistungsfähigkeit erreicht ist und die gewerkschaftlichen Organisationen der Männer heute auch so weit erstarkt sind, daß sie die Arbeitszeit mitbestimmen.

Ausdehnung der Schutzbestimmungen auf Werkstätten, Heimarbeiter und Handelsgewerbe.

Die Betriebsstätten-Schutzbestimmungen und der sanitäre Maximalarbeitstag finden ebenso wie die Vorschriften bezüglich der Sonntagsruhe auf alle gewerblichen Betriebe, ob groß oder klein, Anwendung. Dagegen galten die Vorschriften

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 840. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/403&oldid=- (Version vom 20.8.2021)