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Millionen derjenigen, die vor allem unter der drückenden Sorge und Härte des Lebens seufzen. Es galt der befreienden Erhebung des neu erstehenden und aufstrebenden Standes der Industriearbeiter zur gleichberechtigten und gleichwertigen Eingliederung in den gesellschaftlichen Organismus. Es war ein Werk des Friedens und der Ausgleichung in der Zusammenarbeit aller Kulturstaaten zu hohen gemeinsamen Zielen und zur Festigung der gesellschaftlichen Ordnung.

Das unmittelbar praktische Resultat war die gemeinsame Verständigung über eine Reihe von Grundsätzen und Zielen, die für die Ausgestaltung des Arbeiterschutzes als maßgebend anerkannt wurden.

Den Konferenzberatungen war von der deutschen Regierung ein ausgearbeitetes Programm zugrunde gelegt. Die Beschlüsse der Konferenz stellen sich dementsprechend als Antworten auf die Fragen des Programms dar. Sie kleideten sich in die Form von „Wünschen“, die die Delegierten ihren Regierungen zu unterbreiten sich anheischig machten. So wurde für die Arbeit in Bergwerken u. a. als „wünschenswert“ bezeichnet, daß Kinder unter 14 Jahren – in südlichen Ländern unter 12 Jahren – und Frauen überhaupt nicht unter Tage beschäftigt werden. Hinsichtlich der Sonntagsarbeit sprach man sich dahin aus, daß allen geschützten Personen und allen Industriearbeitern wöchentlich ein Ruhetag, vorbehaltlich gewisser Ausnahmen, und zwar möglichst der Sonntag, gewährt werde. Für die Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben wurde bestimmt, daß die Altersgrenze auf 12, in südlichen Ländern auf 10 Jahre festgesetzt werde, daß diese Grenze allgemein gelten solle; Kinder unter 14 Jahren dürften weder nachts noch Sonntags arbeiten, an den Wochentagen nicht länger als 6 Stunden täglich. Von ungesunden und gefährlichen Betrieben sollten sie ganz ausgeschlossen werden; auch sollten sie vor Eintritt in die gewerbliche Arbeit den Vorschriften über den Elementarunterricht genügt haben. Die jugendlichen Arbeiter beiderlei Geschlechts von 14–16 Jahren dürften weder nachts noch Sonntags arbeiten, ihre effektive Arbeit solle 10 Stunden nicht überschreiten. Den jungen männlichen Arbeitern von 16–18 Jahren müsse Schutz gewährt werden in Betreff eines Maximalarbeitstages, der Nachtarbeit, der Sonntagsarbeit in besonders ungesunden und gefährlichen Betrieben. Die Regelung der Frauenarbeit solle dahin gehen, daß die Nachtarbeit allgemein verboten und daß eine effektive Arbeitszeit von höchstens 11 Stunden eingeführt werde. (Vgl. Dr. Franke, Der internationale Arbeiterschutz, Dresden 1903.)

Mit dem glänzenden Verlauf der Konferenz waren mit einem Male die Bestrebungen des Arbeiterschutzes in allen Staaten Europas und darüber hinaus in den Vordergrund des öffentlichen Interesses gerückt. Sie hatten ihre öffentliche feierliche Sanktion erhalten. Keine Staatsregierung, keine Parteirichtung konnte sich der Pflicht entziehen, ihnen Teilnahme und praktische Unterstützung zu leihen. Tatsächlich begann denn auch in ganz Europa eine neue Periode produktiver legislatorischer Arbeit zur Durchführung der als berechtigt anerkannten Forderungen sozialer Gerechtigkeit. So z. B. in England das Gesetz von 1891, in Frankreich ein solches von 1892, in Holland von 1895, in Belgien eingehende Königliche Verordnungen (Arrêtés royaux) von 1892 usw. Wenn diese Gesetze und Verordnungen auch je nach dem Grade der industriellen Entwicklung, je nach dem Stande der Kultur und der politischen Ideale und Auffassungen naturgemäß sich sehr verschieden gestalten mußten, so bedeuteten sie doch alle einen bedeutsamen Schritt vorwärts zu dem Ziel, das in der Konferenz glänzend und leuchtend vor aller Welt aufgestellt war.

Weitere Wirkungen.

Die Initiative des jungen Kaisers wirkte aber über das engere Gebiet der Gesetzgebung weit hinaus. Er war tief davon durchdrungen und gab dem auch feierlich Ausdruck, daß die staatlichen Maßnahmen allein nicht genügten, daß vielmehr „der freien Liebestätigkeit, der Kirche und Schule ein weites Feld segensreicher

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 827. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/390&oldid=- (Version vom 20.8.2021)