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Würde und Freiheit in ihrem Arbeitsverhältnis mehr Wert legten als auf die Wohltaten der Arbeiterversicherung. Aber all diese noch so berechtigten und wohlwollenden, stürmischen Wünsche und Vorstellungen fanden bei Bismarck kalte Ablehnung, bittere Kritik.

Schon im Jahre 1877 war, wohl auf Grund der Erhebungen über die Verhältnisse der Fabrikarbeiter (veröffentlicht 1877), im Preußischen Handelsministerium ein umfassender Arbeiterschutzgesetzentwurf ausgearbeitet worden, der dann aber vom Fürsten Bismarck aufs schärfste bekämpft und so in den entscheidenden Forderungen fallen gelassen wurde. Bismarck machte in seinem Schreiben an den damaligen Handelsminister Achenbach geltend: „Die Kämpfe der Arbeiter und Arbeitgeber drehen sich wesentlich um die Höhe des Anteils eines jeden am Gewinn und um die Höhe der Leistungen, welche vom Arbeiter verlangt werden darf, um Lohn und Arbeitszeit. Daß irgendwie die Punkte, welche der vorliegende Entwurf berührt, und namentlich die Sorge für die körperliche Sicherheit, für die Schonung der Jugend, für die Trennung der Geschlechter, für die Sonntagsheiligung – und wenn diese Fragen viel befriedigender gelöst würden, als im Entwurf beabsichtigt ist – daß die Steigerung der Macht der Staatsbeamten (gemeint sind die Fabrikinspektoren) den Frieden der Arbeiter und der Patrone herstellen würde, ist nicht anzunehmen. Im Gegenteil, jede weitere Hemmung und künstliche Beschränkung im Fabrikbetriebe vermindert die Fähigkeit des Arbeitgebers zur Lohnzahlung.“ (Poschinger, Aktenstücke zur Wirtschaftspolitik des Fürsten Bismarck, Berlin 1890, Aktenstück 142.)

Dieselben Gesichtspunkte kehrten in seinen leidenschaftlichen Reden 1882 (Interpellation von Hertling und Genossen), 1885 (Antrag des Zentrums und Beratung des Kommissionsantrages betreffend Sonntagsruhe) wieder. „Kann die Industrie solche Lasten tragen?“ „Wo liegt die Grenzlinie, bis zu welcher man die Industrie belasten kann, ohne dem Arbeiter die Henne zu schlachten, die ihm die Eier legt?“ „Wird diese bei einem Siebentel Abzug (in der Produktionsleistung infolge der Sonntagsruhe) exportfähig bleiben?“ – „Wer soll dem Arbeiter den Ausfall tragen“, wenn etwa der Arbeitstag um 20% gekürzt wird und damit auch die Leistung entsprechend zurückgeht? – „Ist der Arbeitgeber, ist der Arbeiter bereit, den Ausfall des siebenten Arbeitstages auf sich zu nehmen?“ – Das sind die Fragen und Einwände, die immer wiederkehren. Der mahnende Hinweis, „daß es sich um die höchsten Güter eines Volkes, seine geistige und körperliche Gesundheit handele“, wird abgewiesen mit der Bemerkung: „Ja, wenn aber dabei die Mittel zum Leben verloren gehen und geringer werden, und der Arbeitslohn ausfällt, was helfen dem Volke dann die höchsten Güter, wenn es Hunger leiden muß?“

Fürst Bismarck hatte in der Frage der Sonntagsruhe selbst eine Enquete angeregt und zur Durchführung gebracht: ob die Arbeiter und Arbeitgeber bereit seien, ihren Ausfall des Lohnes resp. der Produktion des siebenten Tages auf sich zu nehmen. Die Resultate der Enquete lagen vor und ergaben ein glänzendes Ergebnis zugunsten der Sonntagsruhe. Allein verbündete Regierungen und Reichskanzler hüllten sich in Schweigen, – von einer Vorlage war keine Rede. Bezüglich des Frauen- und Kinderschutzes war die Frage nicht minder geklärt. Alle Parteien des Reichstages vereinigten sich in dem dringendsten Wunsche einer gesetzlichen Regelung. So 1887, 1888, 1889. In diesem Jahre (1889) war auf besonderen Wunsch des Herrn Staatssekretär von Boetticher die Verhandlung aufgeschoben worden, in der Hoffnung, daß dieser durch persönlichen Vortrag beim Reichskanzler in Friedrichsruhe eine günstigere Stimmung erwirken würde. Aber wiederum scharfe Ablehnung, die Herr Boetticher trotz seiner Beredsamkeit und persönlichen Konnivenz in seiner Rede vom 23. Januar 1889 unverhüllt zum Ausdruck bringen mußte. Am 31. Januar erfolgte dieselbe Ablehnung bezüglich der Sonntagsruhe. Für die Freunde des Arbeiterschutzes wurde es immer klarer, daß alle noch so wohlbegründeten Beschlüsse des Parlaments immer wieder scheiterten an dem Widerspruch des Fürsten Bismarck. Alle Hoffnungen – so schien es – waren für absehbare Zeiten begraben.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 819. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/382&oldid=- (Version vom 20.8.2021)