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Daß damit die versöhnliche Wirkung dieser Gesetze sich stetig erhöhen mußte, liegt auf der Hand.

Reichsversicherungs-Ordnung.

Die Beratung der Novellen brachte immer wieder die Zersplitterung der deutschen Arbeiterversicherung unangenehm zum Bewußtsein. Vereinheitlichung und Vereinigung drängte sich als Forderung auf. Dazu kam, daß noch immer die dringendste und naturnotwendige Ergänzung der Invalidenversicherung: die Witwen- und Waisenversicherung, fehlte. Sie war schon oft in Resolutionen des Reichstags gefordert worden. Auch in der Thronrede vom 28. November 1895 war die Fortbildung der sozialen Gesetze als „eine Hauptpflicht des Reiches“ von neuem anerkannt und „die Vereinheitlichung des gesamten Arbeiterversicherungsrechts mit der Ausgestaltung der Witwen- und Waisenfürsorge“ als Ziel der Gesetzgebung der nächsten Jahre in Erinnerung gebracht worden. Als Hauptschwierigkeit erschien die neue finanzielle Belastung, welche die Witwen- und Waisenversicherung bringen würden. Um hier die Wege zu ebnen, wurde bei Beratung des Schutzzolltarifs der Antrag (Trimborn und Genossen) gestellt: die Mehrerträge infolge der Erhöhung der Lebensmittelzölle zu einem Fonds für die Durchführung der Witwen- und Waisenversicherung anzusammeln. Dieser Antrag fand Annahme. Wenn auch die Erträge weit hinter den Erwartungen zurückblieben, so drängte sich doch die Pflicht auf, die geweckten Hoffnungen auch zu erfüllen. So kam denn endlich 1910 die „Reichsversicherungsordnung“ zugleich mit dem Ziele der Witwen- und Waisenversicherung zur Vorlage. Es war der umfassendste Gesetzesentwurf, welcher den Reichstag seit dem Bürgerlichen Gesetzbuche beschäftigt hat. Schon Graf Posadowsky und sein Nachfolger im Staatssekretariat, jetzt Reichskanzler Herr von Bethmann-Hollweg, hatten, wirksam unterstützt durch einen getreuen Stab von tüchtigen, für ihre Aufgabe begeisterten Mitarbeitern: Caspar, Spielhagen, Würmeling, Jaup, Beckmann, Wiedfeld, Laß, Siefart, die umfassenden Vorarbeiten wesentlich fertiggestellt. Die parlamentarische Vertretung fiel dem neuen Staatssekretär Dr. Delbrück zu, dessen außerordentliche rhetorische und parlamentarische Begabung denn auch die Vorlage durch alle Wogen und Brandungen des Reichstags glücklich hindurchführte, so daß ihr die bürgerlichen Parteien fast geschlossen zustimmten. Nur die Sozialdemokraten lehnten sie wegen der Neugestaltung der Verwaltung in den Krankenkassen, durch welche ihre Übermacht gebrochen werden sollte, ab.

Mit dem 1. August 1911 wurde die „Reichsversicherungsordnung“ Gesetz. Sie hat zwar keine „Zusammenlegung“ der Versicherungen, wie man in Verkennung der großen Schwierigkeiten oft verlangt hatte, wohl aber eine einheitliche Zusammenfassung der verschiedenen Gesetze in ein großes Rahmengesetz mit verschiedenen Unterabteilungen gebracht. Dabei sind die Begriffe und der Geltungsbereich mehr einheitlich und schärfer umgrenzt. Die Behörden-Organisation: Versicherungsamt, Oberversicherungsamt, Reichsversicherungsamt ist einheitlicher aufgebaut und damit auch die Verwaltung und Rechtsprechung systematischer gestaltet. Aber auch inhaltlich haben die verschiedenen Zweige der Versicherung wesentliche Verbesserungen erfahren. Bedeutungsvoll ist vor

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 815. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/378&oldid=- (Version vom 20.8.2021)