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Gesamtheit gegenüber einen begründeten Anspruch auf ein höheres Maß staatlicher Fürsorge, als ihnen bisher hat zuteil werden können. Für diese Fürsorge die rechten Mittel und Wege zu finden, ist eine schwierige, aber auch eine der höchsten Aufgaben jedes Gemeinwesens, welches auf den sittlichen Fundamenten des christlichen Volkslebens steht. Der engere Anschluß an die realen Kräfte dieses Volkslebens und das Zusammenfassen der letzteren in der Form korporativer Genossenschaften unter staatlichem Schutze und staatlicher Förderung werden, wie Wir hoffen, die Lösung auch von Aufgaben möglich machen, denen die Staatsgewalt allein in gleichem Umfang nicht gewachsen sein würde.“

Durchführung.

Die Novemberbotschaft war gleichsam das soziale Testament Kaiser Wilhelms I. Die Großtaten glorreicher Kriege und Siege nach außen, die machtvolle innere Einigung des Deutschen Reiches sollten durch dieses soziale Friedenswerk ihre Krönung finden. Und die hohe, ernste Auffassung des Kaisers fand die starke Hand zur Durchführung in dem Kanzler, der seine ganze Kraft für das bedeutungsvolle Werk einsetzte. Große Widerstände waren zu überwinden. Es mußte der Kampf aufgenommen werden gegen die herrschende liberale Staatsauffassung, gegen das Mißtrauen und die Zurückhaltung der Parteien. Dazu kamen die Schwierigkeiten in der praktischen Gestaltung, da alle Erfahrungen und Vorbilder fehlten. Nur ein Bismarck mit seiner überragenden Persönlichkeit, gestützt von dem Vertrauen des Kaisers, konnte diese Widerstände überwinden. Treueste Stütze fand er in dem durch seine liebenswürdigen Formen, seine hohe rhetorische Begabung und nie versagende Arbeitskraft ausgezeichneten Staatssekretär von Bötticher und seinen ebenso tüchtigen wie arbeitsfreudigen Mitarbeitern Lohmann, Bosse, Boediker, denen später von Woedtke, Caspar u. a. würdig folgten.

Während die erste Unfallvorlage (15. 2. 81) als Träger der Versicherung eine Reichsanstalt vorgesehen hatte, sollten nach der neuen Vorlage „korporative Genossenschaften unter staatlichem Schutze und staatlicher Förderung“ mit diesen Aufgaben betraut werden. Diese („Betriebs“-)Genossenschaften sollten nach Gefahrenklassen gebildet werden, so daß Betriebe verschiedenster Art, die sich innerlich ganz fernstanden, in einer Genossenschaft vereinigt wurden. Dem widerstrebten die maßgebenden Parteien des Reichstages. Außerdem ergab sich bei der parlamentarischen Beratung die Notwendigkeit, die Unfallversicherungsträger von der Masse der kleineren Unfälle möglichst zu entlasten, da sie bei ihrer weiten territorialen Ausdehnung diesen unmöglich die Sorgfalt und Aufsicht zuwenden konnten, wie sie geboten war. Deshalb wendete sich die Kommission des Reichstages zunächst der Beratung der Krankenversicherung zu, der dann die Versorgung der Unfälle für die ersten 13 Wochen überwiesen wurde. Unterm 15. Juni 1883 kam diese zur Verabschiedung. Inzwischen hatte die Regierung einen dritten Unfallversicherungsgesetzentwurf ausgearbeitet (eingebracht im Januar 1884), der auf dem Prinzip der „Berufs“-Genossenschaften aufgebaut war. Dieser wurde nach eingehenden Beratungen am 6. Juli 1884 glücklich unter Dach gebracht. Das Gesetz beschränkte sich zunächst auf die gewerblichen Betriebe, soweit diese Motoren verwendeten oder mindestens zehn Arbeiter beschäftigten. Durch eine Reihe von Novellen wurde dann die Unfallversicherung weiter ausgedehnt auf das Verkehrsgewerbe (28. 5. 85), auf Personen des Soldatenstandes (15. 3. 86), auf land- und forstwirtschaftliche Arbeiter (5. 5. 86), auf Regie-Bauarbeiter (11. 7. 87), auf Seeleute (13. 7. 87).

So kam die Kranken- und Unfallversicherung noch unter dem ersten deutschen Kaiser zu glücklichem Abschluß und zu praktischer Durchführung. Bezüglich des schwierigeren Teiles, der Alters- und Invalidenversicherung, wurden am 19. November 1887

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 812. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/375&oldid=- (Version vom 20.8.2021)