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der Innungen über den Kreis ihrer Mitglieder hinaus und dienten so zu ihrer Stärkung.

Neuere Handwerkerverbände.

Inzwischen hatte die Handwerkerbewegung weitere Kreise gezogen. Auf dem allgemeinen deutschen Handwerkertag in Magdeburg (1882) traten die Anhänger der neuen zünftlerischen Richtung mit entschiedenen Resolutionen hervor. Der Mittelpunkt dieser Bewegung wurden zwei Organisationen: der „Allgemeine Deutsche Handwerkerbund“ und der „Zentralausschuß der vereinigten Innungsverbände Deutschlands“, die seitdem großen Einfluß auf die deutsche Handwerkerpolitik ausgeübt haben; ihnen gegenüber steht der 1891 gegründete „Verband deutscher Gewerbevereine“, der einen freieren Standpunkt einnimmt. Auf Anregung der beiden ersteren Organisationen empfing unser Kaiser Wilhelm II. 1890 eine Handwerkerdeputation. Im Anschlusse daran tagte vom 15.–17. Juli in Berlin die Handwerkerkonferenz; einberufen vom preußischen Minister für Handel und Gewerbe, nahmen daran Vertreter des organisierten Handwerks, Beauftragte des Reichsamts des Innern und des preußischen Ministeriums für Handel und Gewerbe teil. Die Vertreter des Handwerks vertraten ihre Forderungen: obligatorische Innungen, Befähigungsnachweis als Voraussetzung zum selbständigen Betriebe eines Handwerks und Einrichtung von Handwerkskammern als Vertretung und Aufsichtsbehörde über die Innungen. Ein amtlicher Bericht über die Konferenz erschien nicht, weshalb Abgeordneter Hitze und Genossen im Reichstage die Regierung über den Erfolg interpellierten. Die Regierung erklärte durch Staatssekretär von Bötticher die Einführung der obligatorischen Innung und des Befähigungsnachweises für „nahezu unmöglich“, sie erwäge aber, zur wirksamen Vertretung der Interessen der Handwerker das gesamte Handwerk in Handwerks- oder Gewerbekammern zu organisieren. Die Handwerkerverbände setzten jedoch ihre zunftfreundliche Agitation zielbewußt fort und beeinflußten andauernd die öffentliche Meinung und die Volksvertretung; besonders der deutsche Innungs- und Handwerkertag in Berlin (1892) trat energisch für die Forderungen des Handwerks ein. Nachdem 1892 in Berlin eine Konferenz von Sachverständigen die Vorschläge des Reichsamts des Innern und des preußischen Ministeriums für Handel und Gewerbe (Handelsminister von Berlepsch) beraten hatte, erschienen am 18. August 1893 die Berlepschen Vorschläge für die Organisation des Handwerks und für die Regelung des Lehrlingswesens. Sie stellten eine Privatarbeit des Ministers dar und sollten der öffentlichen Kritik unterliegen. Sie zielten darauf hin, Handwerkerfachgenossenschaften mit allgemeinem Beitrittszwang ins Leben zu rufen, die also alle Gewerbetreibenden umfaßten; ferner sahen sie vor: obligatorische Handwerkskammern, obligatorische Gehilfenausschüsse sowohl bei den Handwerkskammern als bei den Fachgenossenschaften, durchgreifende Regelung der Lehrlingsausbildung und Schutz des Meistertitels. Dieser Entwurf wurde besonders seitens der Handwerkerverbände einer scharfen Kritik unterzogen und eine Reihe von Gegenvorschlägen gemacht; auch der Verband deutscher Gewerbevereine nahm dazu Stellung und lehnte besonders die Zwangsfachgenossenschaften ab.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 777. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/340&oldid=- (Version vom 20.8.2021)