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der Gewerbefreiheit stand, indessen dem zünftigen Teil der Handwerker entgegenkam. Jedoch nahmen die Klagen über den Niedergang des Handwerks zu, und in den Handwerkerkreisen wurde ausschließlich die Gewerbefreiheit dafür verantwortlich gemacht. Auf dem deutschen Handwerker- und Gewerbekongreß zu Frankfurt a.M. (1848), das Handwerkerparlament genannt, kam der Entwurf einer allgemeinen Handwerks- und Gewerbeordnung zustande, der der dortigen Nationalversammlung als feierlicher Protest des Handwerkerstandes gegen die Gewerbefreiheit vorgelegt wurde. Die Nationalversammlung kam in dieser Sache zu keinem Ergebnis, dafür befaßten sich die einzelnen deutschen Staaten wiederum mit der Handwerkerfrage und gingen mit einengenden Bestimmungen zugunsten des Zunftwesens vor. In Preußen geschah das durch die Gewerbenovelle von 1849, die den Wünschen des nach Staatshilfe verlangenden Handwerks weit entgegenkam; bei den meisten Handwerken wurde zur Ausübung des Gewerbes der Eintritt in eine Innung oder die Ablegung einer Prüfung gefordert, für Lehrlinge und Gesellen ein zunftmäßiger Lehrgang eingeführt. Die davon erwartete segensreiche Wirkung trat nicht ein; man hatte eben nur die Kleingewerbe unter sich beschränkt, ohne die tiefer liegenden allgemeinen Ursachen des Niedergangs zu berücksichtigen. Bald waren die Anhänger der unbeschränkten Gewerbefreiheit rührig an der Arbeit, diese gesetzlichen Vorschriften wieder beseitigt zu sehen. Auch in den maßgebenden Regierungskreisen kam man zu der Überzeugung, daß nicht in erster Linie der Gewerbefreiheit die Schuld an der mißlichen Lage des Handwerks beizumessen sei. So gingen die deutschen Staaten in den 60er Jahren einer nach dem anderen zur Einführung der Gewerbefreiheit über, und Preußen schloß sich an mit der am 21. Juli 1869 erlassenen Gewerbeordnung, die 1871 auf das ganze Deutsche Reich ausgedehnt wurde und die Gewerbefreiheit im weitesten Maße verwirklichte.

Damit zerfiel das Innungswesen immer mehr, denn die Innungen verloren den öffentlich-rechtlichen Charakter und somit alle besonderen Rechte; sie bestanden nur noch auf fakultativer Grundlage. Aber schon in den nächsten Jahren entwickelte sich wieder eine kräftige Bewegung gegen die Gewerbefreiheit. 1873 bildete sich der Verein selbständiger Handwerker und Fabrikanten, der die Handwerkerinteressen vertreten und Beschränkungen der Gewerbefreiheit durchführen wollte, 1874 brachten die Abgeordneten Ackermann und Genossen im Reichstage eine Interpellation ein, die eine Gesetzesvorlage über Abänderung der Gewerbeordnung auf Grund der Erfahrungen der letzten Jahre wünschte; auch der Verein für Sozialpolitik befaßte sich wiederholt mit Reformvorschlägen. Die Novelle von 1878, die sich besonders des Lehrlingswesens annahm, kam diesen Wünschen nur gering entgegen. Die Novelle vom 18. Juli 1881 entsprach jedoch den Wünschen der Handwerker in höherem Maße. Durch sie wurden die Innungen wieder zu öffentlich-rechtlichen Korporationen mit dem Recht einer juristischen Person erhoben, besonders um die Durchführung der Vorschriften von 1878 über das Lehrlingswesen in die Hand zu nehmen; sie erhielten die Erlaubnis zur Bildung von Schiedsgerichten, und es wurden Innungsausschüsse und Innungsverbände eingeführt, um auch solche Aufgaben zu erfüllen, denen eine einzelne Innung nicht gewachsen war. Weitere Novellen – von 1884 und von 1887 – dehnten die Befugnisse

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 776. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/339&oldid=- (Version vom 20.8.2021)