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erinnert, daß das Bankwesen keine Wissenschaft ist, und daß sie in ihren letzten und entscheidenden Teilen nicht erlernt werden kann; die Leitung einer Bank ist eine Kunst, und zum Erfolg gehört auch ein glücklicher Instinkt, das richtige Fühlen des herannahenden Umschlags. Freilich aberwitzige Kreditgewährungen, wie sie z. B. die Leipziger Bank vorgenommen hat, die an eine einzige Gesellschaft 93 Millionen Mark Kredit gab, obwohl die Bank selbst nur 48 Millionen Mark Aktienkapital besaß, sind immer verwerflich; schon der Grundsatz einer vernünftigen Verteilung des Risikos muß jede Bank abhalten und hält jede vernünftig geleitete Bank davon ab, zu viel auf eine Karte zu setzen. Im allgemeinen pflegen die deutschen Banken bei der Kreditgewährung über einen ziemlich engen Rahmen nicht hinauszugehen. Man darf auch nicht vergessen, mit welcher fieberhaften Hast sich das deutsche Wirtschaftsleben entwickelt hat, und wie kurz eigentlich der Zeitraum ist, in dem die deutschen Banken ihre Erfahrungen haben sammeln können. Nimmt man dazu den schon öfters berührten Umstand, daß das Geschäft der deutschen Banken ein ziemlich universelles und lange nicht so spezialisiert ist, wie das der englischen, dann wird man milder und gerechter urteilen. Die Kreditgewährung wird auch wohl von dem Gesichtspunkte aus angegriffen, daß das den Banken anvertraute Sparkapital überwiegend der Industrie und dem Handel, namentlich dem Großhandel und mittleren Handel, in Form des Kredits gewährt wird, während Landwirtschaft, Handwerk und Kleingewerbe vernachlässigt worden sei. Das ist zum Teil richtig, ist aber auch durch den Gang der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland nur zu sehr begründet. Einmal hat die Landwirtschaft sich den Formen des modernen Kreditverkehrs erst als letzte unter den großen Berufszweigen angeschlossen; die Organisation der Bankwelt war schon auf Handel und Industrie zugeschnitten, als die Landwirtschaft auf dem Plan erschien. Es fehlte aber auch für einen Blankokredit an die Landwirtschaft der Bankwelt die Möglichkeit einer dauernden Kontrolle über Person und Geschäftsbetrieb des einzelnen Landwirts. Hier konnte erst im Wege des ländlichen Genossenschaftswesens und der Ausbildung des Sparkassensystems auch auf dem flachen Lande Abhilfe geschaffen werden. Für Realkredite aber schuf sich die Landwirtschaft durch die großen landwirtschaftlichen Institute eigene Organe mit eigener, den ländlichen Verhältnissen angepaßter Verwaltung. Ähnlich verhielt es sich mit dem Handwerk und Kleingewerbe. Auch hier mußten erst durch den Scheck, Abrechnungs- und Überweisungsverkehr, namentlich durch Postscheckverkehr, die neuere Kredit- und Verkehrsform geschaffen werden, und nur durch lokale Genossenschaften, Sparkassen und kleine bankmäßig eingerichtete Kreditinstitute konnte ein vernünftiger Personalkredit gewährt werden. Je mehr sich Landwirtschaft, Handwerk und Kleingewerbe der modernen Form des Kreditverkehrs bedienen, um so eher wird es den Großbanken durch besondere Organisationen ermöglicht werden, auch diesen Kredit zu pflegen, wie das in Frankreich ja schon von lange her der Fall ist. Überhaupt ist man zu der Annahme berechtigt, daß die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte in der deutschen Bankwelt ein klareres Verständnis für die Art des zu gewährenden Kredits erweckt haben; man darf aber auch nicht vergessen, daß auf diesem Gebiete die Leiter der Großbanken wiederum vor einer schweren Aufgabe stehen. Sie würden durch ein

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 753. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/316&oldid=- (Version vom 20.8.2021)