Seite:Deutschland unter Kaiser Wilhelm II Band 2.pdf/292

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

sind und deshalb auch am Handel ihre Spuren hinterlassen mußten. Namentlich gilt dies für den Detailhandel.

Trotz seiner Beweglichkeit ist der Detailhandel im Grunde ein konservatives Gewerbe. Dank der Zähigkeit, die ihm innewohnt, vermag er bestehende Verhältnisse auch dann noch für eine gewisse Zeit aufrechtzuerhalten, wenn sie den veränderten Bedürfnissen nicht mehr genügen. Die primitive Art, in der die Vorfahren das Handelsgeschäft betrieben haben, ist keineswegs aus der Welt verschwunden, man begegnet ihr vielmehr auch heute noch, namentlich auf dem platten Lande und in Kleinstädten. Wo Beschränktheit des Verkehrs, lokale Eigenart usw. die Festhaltung alter Formen und Gewohnheiten gestatten, wird der Konflikt zwischen früher und jetzt nicht zu Tage treten. Wo aber der fortschreitenden Verkehrsentwicklung keine Hindernisse im Wege liegen, wo tausend und abertausend findige Geister bereit sind, jede Entdeckung und Erfindung in die Praxis überzuführen, geraten diejenigen kaufmännischen Betriebe unter die Räder, welche sich nicht rechtzeitig modernisieren. Das Schlachtfeld, auf dem die Opfer fallen, wird insbesondere durch die großen Städte gebildet, reicht aber auch noch in die Mittelstädte hinein. Die Rückständigkeit, die sich an einzelnen Stellen des Handels zu halten vermochte, hat in den großen Städten völlig ausgespielt.

Indes können die Klagen, welche aus den Kreisen der Detaillisten ertönen und im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte nicht leiser, sondern lauter geworden sind, nicht einfach mit dem Bemerken abgetan werden, daß es sich hier lediglich um den Kampf zwischen den Mächten des Fortschritts und Rückschritts handle. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die weitaus überwiegende Zahl der Detailgeschäfte der Großstädte von dem Vorwurfe der Rückständigkeit nicht getroffen wird. Wenn aber gerade hier die Behauptung am eindringlichsten verfochten wird, daß die Lage des Kleinhandelsgewerbes überaus schwierig sei, so müssen die Gründe in Tatsachen zu suchen sein, die mit der Rückständigkeit der Betriebe nichts zu tun haben. Es sei dies kurz erläutert.

Wir haben den Handel ein menschenarmes Gewerbe genannt, man kann ihn weiter ein kapitalarmes nennen, namentlich wenn man den Vergleich mit der Industrie zieht. Während hier das stehende Kapital in der Form kostspieliger Anlagen, Maschinen usw. eine große Rolle spielt, ohne daß aber deshalb die Bedeutung des umlaufenden Kapitals, der Betriebsmittel, in den Hintergrund tritt, ist die Gründung eines Handelsbetriebes in zahlreichen Fällen auch denjenigen möglich, welche nicht kapitalkräftig sind. Der Schwerpunkt liegt beim kaufmännischen Gewerbe nicht im stehenden, sondern im umlaufenden Kapital. Während aber das stehende Kapital eine feste Größe darstellt, bei der eine Herabminderung meistens nur auf Kosten der Leistungsfähigkeit der Gesamtanlage durchgeführt werden kann, ist das Band des umlaufenden Kapitals so elastisch, daß es ohne Schaden für den Betrieb verkürzt werden kann, sofern es dem Inhaber gelingt, den Umschlag des Warenlagers zu vervielfachen. An der Bildung des Nationalkapitals hat zwar der Handel stets großen Anteil gehabt, aber die Regel war, daß die Werte, die er ansammelte, das eigene Heim verließen und in fremden Dienst traten. Industrie, Bergwerk, Häuserbau, Schiffsbau usw. nahmen fast das ganze Nationalkapital für sich in Anspruch.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 729. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/292&oldid=- (Version vom 20.8.2021)