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Der Binnenhandel
Von Dr. Otto Ehlers, Syndikus der Handelskammer Berlin, M. d. A.


Das Erstarken der Wirtschaft, das wir in Deutschland für alle Gebiete feststellen können, hat um so mehr Staunen hervorgerufen, als die Fortschritte sich auf einen verhältnismäßig kurzen Zeitraum zusammendrängen, auf das noch nicht vollendete halbe Jahrhundert, das seit Gründung des Reiches verflossen ist. Aber die Erklärung für diese beschleunigte Entwicklung liegt nahe. Was andere Kulturstaaten, insbesondere England und Frankreich, in jahrhundertelanger stetiger Arbeit erreicht hatten, mußte Deutschland, dessen wirtschaftliche Kräfte in der Periode der politischen Zersplitterung nicht hatten zur Entfaltung kommen können, gewissermaßen im Fluge nachholen. Es ist ein gutes Zeichen für die wirtschaftliche Veranlagung des deutschen Volkes, daß bei seinen Schöpfungen die Solidität des Werkes nicht unter der Schnelligkeit, mit der es hergestellt ward, gelitten hat.

Der Hauptteil der wirtschaftlichen Fortschritte, die sich seit den Tagen der Reichsgründung vollzogen haben, entfällt auf die zweite Hälfte des Zeitraumes. Der Samen, der in der ersten Hälfte gelegt worden war, ging auf und führte zu einer Entwicklung, die mit geringfügigen Unterbrechungen einen außerordentlichen Aufstieg darstellt. Die Weltmacht wurde Weltmarktsmacht.

In nachstehender Darstellung soll erwiesen werden, daß der Binnenhandel an dieser Entwicklung gebührenden Anteil genommen hat.

Der Binnenhandel im Verhältnis zum Außenhandel.

Wer die Geschichte des Deutschen Binnenhandels schreiben will, muß zugleich die Geschichte der Gütererzeugung schreiben. Was an Rohstoffen und fertigen Waren geschaffen wird, bleibt nur zu einem kleinen Teil im Eigenverbrauch der Erzeuger, die weitaus überwiegende Menge wird Gegenstand des Verkehrs und gelangt erst über diesen hin zum endlichen Ziel, zum Verbrauch. Der Weg, den das Gut vom Geburtsort an bis zur Sterbestätte – denn Verbrauch ist Vernichtung – zurücklegt, kann kurz oder lang sein: fast immer wird, um die Fahrt zu bewerkstelligen, eine leitende Hand nötig sein. Diese Hand bietet der Handel. Hält sich die Fahrt innerhalb der Grenzen des einheimischen Gebiets, so sprechen wir von Binnenhandel; schneidet sie die Grenze, so ergibt sich der Begriff des Außenhandels.

Unterschiede sonstiger Art, die das Wesen berühren, bestehen nicht zwischen den genannten zwei Arten des Handels, mag die historische Entwickelung auch einige Verschiedenheiten

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 714. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/277&oldid=- (Version vom 20.8.2021)