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Entwickelung des Arbeiterschutzrechtes und der Verwaltungseinrichtungen zu seiner Durchführung und die schließlich erreichte umfassende Fortbildung dieses Rechts und dieser Einrichtungen ist ein Streitpunkt der Parteien geblieben. Aber in der so erfolgten Ergänzung der Arbeiterversicherung und des schon von vornherein in Kraft stehenden und in Kraft gebliebenen Organisationsrechts der industriellen Arbeiter liegt doch wohl ein richtiger Fortschritt über die Verhältnisse in der ersten Reichsperiode hinaus. Gerade der modernen Entwickelung der Industrie, der Unternehmungsformen, der Stellung des Unternehmertums, zumal im Großbetrieb, der allgemeinen Anerkennung und Ausübung der Grundsätze der Gewerbefreiheit und des freien Vertragsrechtes entsprach es nur, der Lohnarbeiterklasse das Koalitions- und Gewerkvereinsrecht zu gewähren, um ihre Interessen genügend mit geltend machen zu können. Das brauchte übrigens keineswegs das Fehlen jeden gesetzlichen Schutzes der Arbeitswilligen in sich zu schließen. Und wenn durch ein solches Organisationsrecht und durch den entwickelten Arbeiterschutz und die Arbeiterversicherung auch gewiß Unternehmertum und Kapitalistenwelt mannigfach in der Verteilung der volkswirtschaftlichen Reinerträge, die in ihren Unternehmungen unter ihrer Führung erzielt werden, eine ihnen ungünstige Beeinflussung erfahren, namentlich durch die Zwangsbeiträge der Arbeitgeber, und wenn so die Arbeiterwelt begünstigt wird, so sind das einmal Folgen, welche der Gesetzgeber bei vollem Verständnis dessen, was er tat, gewollt hat und wollen mußte. Es sind aber auch Folgen, welche im Zeitalter hochentwickelter Technik und Ökonomik und großartiger Umgestaltung und Entfaltung der privatwirtschaftlichen Organisation der Unternehmungen im wesentlichen dem Gemeininteresse moderner Kulturvölker entsprochen haben. Erst so konnte das naturwissenschaftliche und Maschinenzeitalter der Produktion und des Verkehrs seine reichen und guten Früchte der gesamten unteren Bevölkerung zum Mitgenuß bringen. Es ist eine kleinliche egoistische Auffassung, darüber zu klagen, daß diese Früchte so nicht in noch größerem Maße dem Besitz, den Herren der Unternehmung, dem „Kapital“ verbleiben. Es ist zwar nicht zu leugnen, daß aus Arbeiterschutz und Arbeiterversicherung auch einzelne üble psychische Einwirkungen auf die Arbeiterkreise selbst hervorgegangen sind, die gewiß bekämpft werden sollen und auch können. Aber deshalb kann die große bezügliche Gesetzgebung in ihren weit überwiegenden guten Wirkungen − auch psychologisch guten Wirkungen − trotz aller sozialdemokratischen Verhetzung, Entstellung und Herabsetzung des Erreichten nicht verkannt werden. Daß so im letzten Menschenalter an der positiven Sozialpolitik zugunsten der Arbeiter unentwegt festgehalten und weitergebaut wurde, ist eine der größten politischen Leistungen und einer der höchsten Ruhmestitel dieser Periode. Und daß in allen kompetenten und maßgebenden Kreisen, außerhalb eines Teils der Großindustrie, die Notwendigkeit, hieran auch jetzt festzuhalten und weiterzubauen eingesehen wird, ist gewiß erfreulich.

Allerdings, es ist ein Maß in den Dingen, das ist ebenso einzusehen und ein Maßhalten in der sozialpolitischen Gesetzgebung ist geboten. Die internationalen Konkurrenzverhältnisse können und dürfen im Industrie- und Exportstaat der Gegenwart auch nicht unbeachtet bleiben. Das Ziel einer internationalen Regelung mancher Punkte im Gebiet des Arbeiterschutzes, das von Wilhelm II. gleich im Beginn seiner Regierung mit aufgestellt

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 461. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/24&oldid=- (Version vom 14.2.2021)