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des Wirtschafts- und Soziallebens eingetreten, und dies trotz des Ausbaus der Arbeiterversicherungs- und Arbeiterschutzgesetzgebung und der Zulassung der Gewerkvereinsorganisation der Arbeiter, die teilweise mit als hemmende Momente gegenüber jenen Freiheiten einwirken.

Privatkapitalistische Fragen.

Solche Erscheinungen sind namentlich die Entwickelung des Kartellwesens und der industriellen und merkantilen Syndikate, der Spekulation zur Ausbeutung von Konjunkturen, des spekulativen Bank- und Börsenwesens, des Börsenspiels in allen Kreisen der Bevölkerung. Der hochprivatkapitalistische Charakter der deutschen Volkswirtschaft, die Entstehung von großen, ja riesigen Einzel-Einkommen und Vermögen, die gedrückte Lage des Mittelstands trotz der gleichzeitigen unzweifelhaften Hebung des namentlich industriellen und montanistischen Arbeiterstands, die größeren wirtschaftlichen und sozialen und teilweise auch politischen Gegensätze und Unterschiede von Ober-, Mittel- und Arbeiterklasse, von beweglichem Kapital und Grundbesitz, von Stadt, besonders Großstadt und Land, sind aus diesen Verhältnissen mit hervorgegangen. Plutokratie gerade der Oberklasse, maßloser Luxus und Genußsucht, hier wie von da aus schon durch Beispiel nachwirkend in den anderen Klassen, wirtschaftliche Übermacht und beherrschende Gewalt, auch Übermut in vielen Kreisen und vollends an den Spitzen der modernen Geld-, Bank-, Börsen-, Handels-, Industriekreise, sind ohne hinlänglich retardierende Gewichte fast stärker als sonst in ganz Europa, selbst als in England, Frankreich, Belgien zu einer hypertrophischen Entfaltung gekommen, ähnlich, wenn auch noch schwächer, wie in Nordamerika. An wirksamen Versuchen, solche retardierende Gewichte anzubringen, ist aber teils noch nicht viel gelungen, teils sind solche von vornherein unterblieben. So ist namentlich die Kartellbildung mit ihren Folgen der Entstehung faktischer Monopole des Einzel- und des assoziierten Großkapitals, mit ihrer privaten Besteuerung der Konsumenten in hohen Preisen, mit ihrem Druck auf die Arbeiterklasse in deren Löhnen und Arbeitszeiten, mit ihrer Bedrückung des gewerblichen Mittelstands, mit ihren für Besitzer, auch Aktionäre oder Beteiligte an anderen Erwerbsgesellschaften abfallenden überhohen Gewinnen uneingeschränkt geblieben. Gleiches gilt von der Börse, die mit ihrem vielfachen bloßen Spielgeschäft trotz der Börsengesetzgebung sich zu sehr selbst überlassen blieb. Dieser Ausspruch bleibt bestehen, auch wenn man anerkennt, daß durch manche Einzelgesetze, so zur Modifikation und Beschränkung der Gewerbefreiheit, die innere Handels- und Gewerbeverfassung und die wirtschaftsfreiheitliche Produktion und der Verkehr immerhin eine Beeinflussung erfahren haben. So besonders durch die neue Handwerksordnung, durch die Rückkehr zu einem umfassenderen, leistungsfähigeren und wirksameren Innungswesen, sogar wieder bis zu Zwangsinnungen, durch Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs, durch Gesetze wie über Fleischbeschau u. a. m. Auch der große Ausbau des Genossenschaftswesens, besonders im Kredit- und Bankwesen, zum Teil auf der Grundlage eines neuen Rechtes, der beschränkten Haftbarkeit neben der unbeschränkten. Er ist an sich auch eine der erfreulichsten Erscheinungen unseres Wirtschafts- und Soziallebens und zugleich eine besonders mitwirkende Hemmung der Entfaltung des bloßen Bank- und Börsenwesens und des Privatkapitalismus, des Einzelkapitals und des

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 459. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/22&oldid=- (Version vom 14.2.2021)