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gelangen. Amerika wiederum gewinnt die hauptsächlichsten Rohmaterialien im eigenen Lande, so die Baumwolle ganz und die Wolle größtenteils, während Deutschland die Baumwolle ganz und die Wolle größtenteils vom Auslande beziehen muß. Es werden daher gewaltige Anstrengungen notwendig sein, um die jetzige Stellung auf dem Weltmarkt zu behaupten. Die sich aus den günstigen geographischen Verhältnissen ergebenden Vorteile können nur durch die Lieferung billigerer oder besserer Waren wettgemacht werden.

Man wird aber getrost in die Zukunft blicken können, wenn man sich vergegenwärtigt, welche wichtige Rolle deutsche Erfinder bei allen neuen Errungenschaften und Fortschritten auf dem Gebiete der Textilindustrie gespielt haben.

Die größten Umwandlungen haben wohl auf dem Gebiete der Veredelungsindustrie stattgefunden. Die Kunstseidenfabrikation, die Mercerisation und die gleiche Ziele verfolgende Behandlung der Baumwolle durch den sogenannten Seidenfinish und die Erfolge, die bei der Herstellung schöner und echter Farben erzielt worden sind, haben der Textilindustrie vollkommen neue Wege gewiesen und überall waren deutsche Wissenschaftler und Techniker hervorragend beteiligt.

Kunstseide, Glanzstoff, Viskoseseide.

Der Gedanke, Kunstseide zu erzeugen, also den Prozeß des Seidenspinners auf künstlichem Wege nachzuahmen, ist schon im 18. Jahrhundert von dem Chemiker Réaumur angeregt worden. Graf Hilaire de Chardonnet in Besançon hat den Gedanken in die Tat umgesetzt und erhielt im Jahre 1885 das erste Patent auf die Herstellung künstlicher Seide. Zum Verspinnen benutzte er das von dem deutschen Chemiker Schönbein im Jahre 1846 durch Einwirkung von Salpetersäure auf Zellulose zuerst dargestellte Kollodium oder die sogenannte Nitrozellulose. Die Nitrokunstseide ist somit das älteste der im Handel befindlichen Kunstseidenprodukte. Auf der Pariser Weltausstellung im Jahre 1889 konnte Chardonnet die ersten Proben seiner Kunstseide ausstellen und das Verfahren der Herstellung vorführen. Praktische Verwendung fand die Kunstseide erst vom Jahre 1890 ab, nachdem es Chardonnet gelungen war, seinem Fabrikate die hohe Feuergefährlichkeit zu nehmen und das Verfahren durch Dr. Lehner in Augsburg verbessert worden war. Die nach dem Chardonnetschen Verfahren begründeten deutschen Kunstseidenfabriken vermochten im Anfange ihres Bestehens nur wenige Kilogramm pro Tag herzustellen. Die Produktionsmöglichkeit erfuhr eine rasche Steigerung, im Jahre 1908 betrug sie 2000−3000 kg pro Tag. Bei einem Selbstkostenpreis von 12–14 M. ergab diese Fabrikation der deutschen Volkswirtschaft einen ganz erheblichen Nutzen, der sich vor allem auch in den hohen Dividenden der beteiligten Fabriken zeigte. In den letzten Jahren weist die Industrie der Nitrokunstseide eine stark rückschreitende Tendenz auf und ist zum größten Teile schon ganz eingegangen. Der Grund hierfür liegt in den hohen Preisen des für dieses Verfahren benötigten Alkohols und Äthers und in dem Umstande, daß es gelang, Kunstseide ohne Verwendung von Alkohol und Äther durch Auflösen von Zellulose in einer konzentrierten Lösung von Kupferoxydammoniak

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 597. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/160&oldid=- (Version vom 9.10.2016)