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Die neue Blüte der deutschen Textilindustrie hat, nachdem die Folgen des französischen Krieges überwunden waren, begonnen, umfaßt also ungefähr die letzten 25 Jahre. In dieser Zeit ist nicht nur die Menge der Fabrikate beträchtlich gewachsen, sondern auch die Güte der Erzeugnisse verbessert worden. Ferner ist der Bau der Textilmaschinen so vervollkommnet worden, daß es heutzutage kaum noch notwendig ist, für irgendeinen Spezialzweig Maschinen aus dem Auslande zu beziehen. Die Fabrikate der Farbenindustrie haben sogar einen so bedeutenden Ruf erlangt, daß sie die ganze Welt beherrschen, denn sie decken 6/7 des Weltbedarfs.

Die Steigerung der Produktion innerhalb der letzten 25 Jahre ließe sich zahlenmäßig genau nur angeben, wenn eine vergleichende Statistik über die hergestellten Erzeugnisse und ihren Wert zum Beginn der Blüteperiode und zur Jetztzeit vorläge. Da nur Angaben über die heutigen Zustände und auch diese nur lückenhaft vorhanden sind, muß man sich mit Schlußfolgerungen aus den Gewerbezählungen von 1882 und 1907 begnügen. Nach diesen betrug im Jahre 1882 die Zahl der Betriebe 406 574 und die der darin beschäftigten Personen 910 089, während im Jahre 1907 die Zahl der Betriebe 161 218 und die der darin beschäftigten Personen 1 088 280 ausmachte. Diese Zahlen lehren, daß sich die Zahl der Betriebe verringert und die Zahl der beschäftigten Personen vermehrt hat, d. h. es sind viele kleinere Betriebe verschwunden und größere an ihre Stelle getreten. Die Zahl der beschäftigten Personen ist um nahezu 20%, also um 1/5 gewachsen. Die mit ihnen erreichte Produktion muß aber um einen bedeutend höheren Betrag gestiegen sein, denn in den 80er Jahren gab es noch viele Hand- und Einzelbetriebe. Sie sind allmählich durch die mechanischen Großbetriebe verdrängt worden. Einen annähernden Maßstab wird man gewinnen, wenn man die Zahl der für die Betriebe erforderlichen Pferdekräfte zum Vergleich heranzieht, denn die hier zu verzeichnende Zunahme wird der Zunahme der Arbeitsmaschinen entsprechen. Leider stehen diese Zahlen nur für die Zählungen von 1895 und 1907, nicht aber von 1882 zur Verfügung. Im Jahre 1895 betrugen die Pferdekräfte 518 176 und im Jahre 1907 880 400, wozu noch 77 843 Kilowatt an elektrischer Kraft kommen. Rechnet man die Pferdekraft zu 736 Watt, so beträgt die Zahl der Pferdekräfte im Jahre 1907 etwa 986 000. Hiernach würde sich der Betrieb in der Zeit von 1895–1907 nahezu verdoppelt haben. In Wirklichkeit wird aber die Steigerung noch größer sein. Die Arbeitsmaschinen sind innerhalb der 25 Jahre sehr verbessert worden, ihre Leistung beträgt also bei gleichem Kraftbedarf mehr wie früher. Der Fortschritt gegenüber 1882 ist natürlich entsprechend größer.

Daß dieser Erfolg erreicht worden ist, verdankt Deutschland allein der rastlosen Tätigkeit und Tüchtigkeit der Fabrikanten und Kaufleute und der Maschinenbauer und Chemiker, denn es arbeitet seinen beiden Hauptkonkurrenten auf dem Weltmarkt gegenüber unter ungünstigen Umständen. Die Textilindustrie in England ist lokalisiert und zu den Gewinnungsorten des Eisens und der Kohle sowie zu den Hafenplätzen für die Einfuhr des Rohmaterials und die Ausfuhr der fertigen Waren günstig gelegen, während sie in Deutschland ziemlich zersplittert ist und Rohmaterialien und fertige Waren weite Landwege zurücklegen müssen, bevor sie zu den Fabriken oder zu den Ausfuhrhäfen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 596. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/159&oldid=- (Version vom 9.10.2016)