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Lage maßgebend und Erwägungen ernster finanzpolitischer Natur. Keine der bürgerlichen Parteien von der äußersten Rechten bis zum Freisinn hat daran gedacht, ihre Zustimmung zur Wehrvorlage selbst von den Schwierigkeiten und Meinungsverschiedenheiten in der Deckungsfrage abhängig zu machen. Der nationale Gedanke hat bei allen bürgerlichen Parteien feste und dauerhafte Wurzeln geschlagen. Eine notwendige und begründete Militär- und Flottenvorlage wird nach menschlichem Ermessen bei uns stets auf eine sichere parlamentarische Mehrheit rechnen können. An der Erreichung dieses Erfolges hat die Blockära einen sehr wesentlichen Anteil gehabt.

Wahlkampf gegen die Sozialdemokratie.

Wenn die Verstärkung der nationalen Front als eine bleibende Frucht der parlamentarischen Kämpfe des Winters 1906 und der Kombination von 1906/1909 angesehen werden darf, so hat der im Jahre 1907 über die Sozialdemokratie errungene große Wahlsieg leider nicht die dauernden Früchte getragen, die er hätte tragen können und sollen. Trotzdem war der Ausfall jener Wahlen von eminenter Bedeutung. Die Tatsache, daß die Sozialdemokratie von 81 Mandaten zurückgeworfen wurde, zurückgeworfen werden konnte auf 43 Mandate, hat eine weit über den einzelnen Wahlkampf hinausreichende Tragweite. Die Redensart von einem Zufallssieg ist der Ausdruck parteipolitischer Unwahrhaftigkeit oder bedauerlicher Gedankenlosigkeit. Solche Zufälle gibt es in der Politik so wenig wie im Leben. Auch in der Politik hat jede bedeutsame Wirkung ihre entsprechende Ursache. Ohne zureichenden Grund verliert eine so fest organisierte Partei wie die Sozialdemokratie nicht 44 Wahlkreise, wird ihr Mandatsbestand nicht um 36 Sitze reduziert. Ihren 44 Verlusten standen 1907 nur 8 Gewinne gegenüber. Der nationalen Parole allein konnte der Erfolg nicht zugeschrieben werden. Unter einer solchen Parole fanden auch im Jahre 1893 die Neuwahlen nach der Auflösung statt, und sie brachten doch der äußersten Linken einen erheblichen Gewinn nicht nur an Stimmen, sondern, was für den Gang der gesetzgeberischen Arbeit allein von praktischer Bedeutung ist, an Mandaten. Die Gründe für den sozialdemokratischen Mandatsverlust bei den Wahlen von 1907 lagen in der vorher in Parlament und Presse, in Reden und Aufklärung geleisteten Vorarbeit, in der Erfassung des rechten Augenblicks für die Auflösung des Reichstags, in der richtigen Behandlung und Einschätzung der Imponderabilien und in der Zügelführung während des Wahlkampfs.

Es ist unrichtig, einen Wahlsieg über die Sozialdemokratie deshalb gering zu bewerten, weil dem Mandatsverlust nicht ein entsprechender Verlust an sozialdemokratischen Stimmen zur Seite steht. Gewiß wäre es noch besser, wenn es gelänge, der Sozialdemokratie nicht nur im Reichstag Boden abzugewinnen, sondern auch einen Teil ihrer Anhänger- und Zuläuferschaft in das nationale Lager hinüberzuziehen. Aber dieser doppelte Erfolg ist einstweilen schwer zu erringen und nur unter politischen Verhältnissen, wie sie sich bisher noch nicht geboten haben. Seit dem Jahre 1884 bewegt sich die Zahl der bei den Reichstagswahlen abgegebenen sozialdemokratischen Stimmen durchaus in aufsteigender Richtung. Es wurden rund an sozialdemokratischen Stimmen abgegeben:

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/98&oldid=- (Version vom 31.7.2018)